Die Wirtschaft in China erholt sich, aber die Aktienmärkte brechen ein. Warum dieses Paradox kein Paradox ist und wie die fundamentale Lage aussieht.
Die Zahlen
Zuerst einmal kann man festhalten, dass sich Chinas Wirtschaft im ersten Quartal einigermaßen erholt hat. Sie hat in diesem Zeitraum das schnellste Wachstum seit einem Jahr verzeichnet. Offizielle Daten zeigen, dass das Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zum Vorjahr um 4,5 Prozent gestiegen ist, was die Erwartungen von Ökonomen übertrifft. Die Einzelhandelsumsätze im März verzeichneten den größten monatlichen Anstieg seit Juni 2021 und legten im Vergleich zum Vorjahr um 10,6 Prozent zu. Diese positiven Zahlen bilden eine solide Grundlage für China, um sein BIP-Wachstumsziel für dieses Jahr von etwa 5 Prozent zu erreichen oder sogar zu übertreffen. China verzeichnete im vergangenen Jahr ein BIP-Wachstum von nur drei Prozent und verfehlte damit das Ziel von 5,5 Prozent, das bereits das niedrigste seit Jahrzehnten war, und gab Anlass zur Sorge über eine strukturelle Verlangsamung des Wirtschaftswachstums.
Source: National Bureau of Statistics
Dies ist auch eine gute Nachricht für die Weltwirtschaft, da China neben Indien laut dem Internationalen Währungsfonds den größten Beitrag zum globalen Wachstum im Jahr 2023 leistet und etwa die Hälfte der Expansion ausmachen wird. Aufgrund dieser starken Wirtschaftsdaten haben einige Investmentbanken ihre Wachstumsprognosen für China auf über sechs Prozent angehoben.
Insbesondere die Daten aus dem März zeigen, dass die Erholung der chinesischen Wirtschaft allmählich und nicht V-förmig verlaufen wird. Einige staatliche Infrastrukturprojekte haben den Rückgang im Immobilienbau teilweise ausgeglichen. Die allgemeine Arbeitslosenquote bleibt mit 5,3 Prozent ebenfalls hoch, während gleichzeitig das Lohnwachstum stagniert. Im Vergleich zu den Wachstumsraten vor der Pandemie ist das inflationsbereinigte Einkommen der Stadtbewohner im ersten Quartal nur um 2,7 Prozent gestiegen.
Die Finanzmärkte haben auf den BIP Bericht des ersten Quartals relativ verhalten reagiert. Der Benchmark-Aktienindex CSI 300 stieg um 0,3 Prozent, der Offshore-Yuan um 0,1 Prozent und die Rendite zehnjähriger chinesischer Staatsanleihen fiel um einen Basispunkt auf 2,83 Prozent. China bleibt in diesem Jahr entscheidend für die Weltwirtschaft, da die USA und Europa aufgrund hoher Energiekosten und Verbraucherinflation mit begrenzten Verbraucherausgaben zu kämpfen haben.
Hinter den Zahlen
Wenn man sich die Umsatzdaten für den Einzelhandel genauer anschaut, ist der Zuwachs von 10,6 Prozent für März hauptsächlich auf einen niedrigeren Basiswert zurückzuführen. Tatsächlich sind die Einzelhandelsumsätze im März gegenüber dem Durchschnitt der Monate Januar und Februar sogar um zwei Prozent gesunken. Das lässt vermuten, dass die gerade erst begonnene Erholung ins Stocken geraten ist. Noch wichtiger ist, dass der April 2022 einen noch niedrigeren Vergleichswert als März 2022 darstellt – man erinnere sich an den Shanghai Lockdown! Wenn wir davon ausgehen, dass die Einzelhandelsumsätze im April denen von März entsprechen, in anderen Worten kein Wachstum (MoM) haben, dann könnte der April trotzdem ein berauschendes Wachstum von +28,3 Prozent im Jahresvergleich vorweisen. Wenn die April-Zahlen im Mai erscheinen, können wir uns den Jubel und das viel zitierte “Revenge Spending” Thema in den Medienberichten schon jetzt lebhaft vorstellen.
Besonders besorgniserregend ist der Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit auf einen Rekordwert von 19,6 Prozent. Erschwerend kommt hinzu, dass auch dieses Jahr wieder fast elf Millionen Universitätsabsolventen auf den Arbeitsmarkt drängen werden. Das Spannungsgelage beschreibt das chinesische Wirtschaftsmagazin “Caixin” in diesem Artikel so: „Die Angst, Enttäuschung und Verwirrung, die von College-Studenten, der energischsten Gruppe in der Gesellschaft, hervorgerufen wird, kann das Vertrauen der gesamten Gesellschaft in die Aussichten für die wirtschaftliche Entwicklung beeinträchtigen“. Die massiven Anti-Zero-Covid Protestaktionen im November auf den Straßen von Peking, Shanghai und einigen anderen chinesischen Großstädten waren zum großen Teil von mutigen Vertretern dieser Altersgruppe besucht worden.
Auf der Liste der größten Arbeitgeber Chinas sind in den letzten Jahren Privatunternehmen am stärksten aufgestiegen. Trotz der Probleme seit 2020 hat die Alibaba Group ihre Belegschaft im gleichen Zeitraum verdoppelt. JD.com und der Technologie-Gigant Tencent sind heute beide etwa doppelt so groß wie 2018. Allerdings anzunehmen, dass diese durch Regulierung gebeutelten Plattformunternehmen weiterhin Arbeitsplätze in diesen Dimensionen schaffen können, wäre ein Trugschluss. Eher das Gegenteil, nämlich Entlassungen als Teil von großangelegten Sparmassnahmen, sind in den letzten Quartalen die Regel gewesen.
Gibt es Lichtblicke?
Wo wir gerade bei Arbeitsplätzen waren: Ein Unternehmen, das sich durch sein explosives Wachstum an Arbeitskräften auszeichnet, ist BYD. Nachdem das in Shenzhen ansässige Unternehmen jahrelang eine annähernd konstante Belegschaft aufrechterhalten hatte, verdoppelte es seine Belegschaft zwischen 2021 und 2022. Auch wegen solcher Trends lohnt sich ein Blick auf die Shanghai Auto Show. Auf der gerade zu Ende gegangenen Veranstaltung konnte man sehr gut sehen, wie das Reopening vor Ort in China vorangeht. Es war die erste physische Messe seit der Wiedereröffnung Chinas und wurde von mehr als einer Millionen Interessierten besucht. Über 100 neue Modelle, davon 70 Elektroautos, wurden vorgestellt, wobei vor allem die chinesischen Modelle für Aufsehen sorgten. Ausländische Marken und ihre Teams aus Overseas waren nach drei Jahren Abwesenheit wieder zahlreich vor Ort erschienen. Nach Augenzeugenberichten aus dem Freundeskreis herrschte ein rechter Buzz an den Ständen auf der Messe. Eigentlich alles wie immer. Als wäre nichts gewesen.
Obwohl es zahlreiche neue Elektrofahrzeug-Modelle auf der Messe zu bewundern gab, wird es wahrscheinlich das neue Modell “Seagull” von BYD sein, das den größten Einfluss auf den globalen Automarkt haben wird und Chinas Bestrebungen, sich einen bedeutenden Platz in dieser Industrie zu sichern, einen wichtigen Schritt weitergebracht hat. Seagull ist das erste erschwingliche Elektrofahrzeug, vielleicht ein wahrer Volkswagen der E-Mobilität. Der 5-Türer ist für 78.000 Yuan (11.300 Dollar) erhältlich und bietet zwei Reichweitenversionen von 305 bis 405 Kilometern, wobei eine Aufladung der Batterie von 30-80 Prozent innerhalb von 30 Minuten möglich ist.
Als Chinas Einzelhandelsmarkt im vergangenen Jahr unter der Zero-Covid Politik der Zentralregierung litt, konzentrierte Peking einen Großteil seiner Unterstützung und Politik auf die Steigerung des Absatzes von Elektrofahrzeugen, in der Zuversicht, dass dies zur Stärkung seiner lokalen Industrie beitragen würde. Der Rückgang der Einzelhandelsumsätze in China um 0,2 Prozent im vergangenen Jahr hätte viel schlimmer ausgesehen, wenn es nicht das Wachstum der Autoverkäufe um 9,5 Prozent gegeben hätte. Man muss schon viele Lippenstifte und Shampoos verkaufen, um den Wert eines Autos zu erreichen.
Die Verkäufe chinesischer Automarken stiegen um 22,8 Prozent. Der Marktanteil der inländischen Autohersteller Chinas stieg von 47 Prozent im Vorjahr auf 52 Prozent im letzten Quartal 2022. BYD hat Volkswagen nach über 20 Jahren Marktherrschaft im April als Chinas meistverkaufte Automarke abgelöst und hält 10,3 Prozent des Automarktes, gegenüber 2,1 Prozent vor vier Jahren. Betrachtet man nur die New Energy Vehicles, hat BYD sogar einen Marktanteil in China von 38 Prozent, gefolgt von Tesla mit 10,5 Prozent.
Quelle: China Automotive Technology and Research Center, NEVs include pure EVs and plug-in hybrids
Ein Teil des Erfolgs hinter Chinas Aufstieg in der Autoindustrie kann auf die Unterstützung durch die Regierung, das Fertigungsökosystem und den großen Heimatmarkt zurückgeführt werden. Chinesische Autohersteller sind zuversichtlich, Japan in diesem Jahr mit Auslieferungen von 4,5 Millionen Einheiten als weltweiter Exporteur Nr. 1 zu überholen. China exportierte in den ersten beiden Monaten des Jahres über 300.000 Autos, 30,1 Prozent mehr als im Vorjahr und der Löwenanteil fällt dabei auf Elektroautos. Ob die eine Milliarde Euro, die Volkswagen jetzt in Forschung und Entwicklung in China investieren will, noch etwas an diesem Trend und den mickrigen drei Prozent Marktanteil im chinesischen EV-Markt ändern kann, dürfte fraglich sein.
Wolken am Horizont
Die US-Regierung unter Joe Biden plant derzeit eine Exekutivverordnung, die Investitionen von US-Unternehmen in bestimmte Bereiche der chinesischen Wirtschaft einschränken würde. Dazu zählen insbesondere fortschrittliche Technologien, die Chinas militärische und nachrichtendienstliche Fähigkeiten verbessern könnten. Die Verordnung zielt auf bestimmte Arten sensibler „Dual-Use“-Technologien ab, die sowohl in kommerziellen als auch in militärischen Anwendungen eingesetzt werden können. Während die Berichte bisher keine spezifischen Technologien erwähnen, wird erwartet, dass Halbleiter, Quantencomputer und künstliche Intelligenz in den Anwendungsbereich fallen. Gleichsam wird aber in Investorenkreisen noch gehofft, dass sich die präsidiale Verordnung auf Private Equity Investitionen beschränkt und die an Börsen gelisteten chinesischen Technologie-Werte ausnimmt.
Die Reaktion am Aktienmarkt ließ trotz der noch bestehenden Ungewissheit oder vielleicht gerade deswegen nicht lange auf sich warten. Im April haben chinesische Aktien, die an US-Börsen gehandelt werden, über 100 Milliarden Dollar an Marktwert verloren. Sowohl die Aktien von Alibaba als auch von JD.com sind gefallen. KI-Liebling Baidu hat seit Ende März gar 27 Prozent an Marktwert eingebüßt. Der Nasdaq Golden Dragon China Index war zuvor sechs Tage in Folge gefallen, was gleichsam die längste Verlustserie seit über einem Jahr darstellt. Seit Ende März hat der Index mehr als 14 Prozent verloren und steuert auf den schlechtesten Monat seit Oktober zu. Jetzt, wo die anfängliche Euphorie über die Wiedereröffnung nachlässt, haben Investoren ihre Wetten auf chinesische Aktien deutlich zurückgefahren. Laut Morgan Stanley haben besonders Long-Only-Fondsmanager in den USA diesen Monat chinesische ADRs verkauft. Der Hang Seng China Enterprises Index, welcher chinesische Aktien in Hongkong abbildet, ist der drittschlechteste Performer in den letzten drei Monaten unter 92 von Bloomberg verfolgten Aktien-Benchmarks. Der Festland CSI 300 Index hat gerade seinen schlimmsten Fünf-Tages-Lauf seit Oktober erlebt.
Wie soll es weitergehen?
Die große Herausforderung für die chinesische Regierung stellt sich bei der Frage, wer in Zukunft die Innovationstreiber für die Wirtschaft des Landes sein können. Die einst glorreichen Internet-Plattformunternehmen werden es kaum mehr sein. So viel steht fest. Die Kommunistische Partei Chinas treibt diese Frage um. Auf der letzte Woche tagenden Sitzung der Zentralkommission zur umfassenden Vertiefung der Reform hielt Xi Jinping eine wichtige Rede. Privatunternehmen waren ein Kernbestandteil seiner Rede. Um nur einmal einen Satz zu zitieren:
“Die Befriedigung der wichtigsten Bedürfnisse der strategischen und industriellen Entwicklung des Landes sollte im Mittelpunkt stehen, um die Unterstützung für Unternehmen in der Innovation zu verstärken, Privatunternehmen aktiv zu ermutigen und effektiv zu leiten, sich an wichtigen nationalen Innovationen zu beteiligen, und Unternehmen zu ermutigen, ihre Rolle bei der Schaffung von Innovationen zu spielen in Kerntechnologien in Schlüsselbereichen und Erzielung von Durchbrüchen in wichtigen Originaltechnologien.”
Problem erkannt, aber sicher nicht wirklich gebannt. Denn Details fehlen noch. Zwar geben die oben beschriebenen Erfolge der chinesischen Autoindustrie und ihrer staatskapitalistischen Förderhintergründe Anlass zu Optimismus. Aber werden diese Erfolge sich so einfach auf die von amerikanischen Sanktionen arg gebeutelte Halbleiterindustrie übertragen lassen? Schaut man mal auf die private Investitionslandschaft, macht dies nicht gerade Mut.
Laut einem Bericht des Beratungsunternehmens Bain & Co. ist das Volumen der Private-Equity-Investitionen in der Greater China Region im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 53% auf 62 Milliarden US-Dollar gesunken und hat ein Achtjahrestief erreicht. Dieser Rückgang ist auf die Herausforderungen zurückzuführen, mit denen der Markt aufgrund des zunehmenden makroökonomischen Gegenwinds konfrontiert war. Ob dies nur makroökonomische Gegenwinde waren, wie behauptet, oder vielmehr auch handfeste politische und regulatorische Gründe hatte, lassen wir einmal dahingestellt. Auch Bain & Co. muss aufpassen, was es in seinen Berichten sagt. Die Financial Times berichtete am Mittwoch, dass die Polizei dem Shanghai Büro der Firma einen Überraschungsbesuch abgestattet und Computer und Telefone mitgenommen habe.
Beim Wagniskapital sieht der Trend übrigens ähnlich aus. Laut PitchBook wurden im Jahr 2022 in China knapp 70 Milliarden Dollar investiert. Im Jahr 2021 waren es noch 136 Milliarden Dollar gewesen. Im vergangenen Jahr wurde der niedrigste jährliche Transaktionswert seit 2017 verzeichnet.
Das Klima ist rauer geworden. Bao Fan, einer der bekanntesten chinesischen Finanzinvestoren für chinesische Technologie-Startups und Gründer der Investmentbank China Renaissance, ist seit Mitte Februar verschwunden.
Seine Firma gab eine knappe Erklärung ab, dass er an einer nicht näher bezeichneten Untersuchung mitarbeitet. Das in Hongkong gelistete Unternehmen ist seit Ende März vom Handel ausgeschlossen. Das unheimliche Verschwinden hat möglicherweise mehr Einfluss auf die Psyche der chinesischen Unternehmensklasse als alle ermutigenden Worte der staatlichen Medien.
Diesen Einwurf sollte sich auch das 24-köpfige Politbüro unter der Leitung von Xi Jinping zu Herzen nehmen, wenn sie dieses Wochenende in Peking zusammenkommen. Das vierteljährliche Treffen des Politbüros, das in der Regel jedes Jahr in der letzten Aprilwoche einberufen wird, wird von den Anlegern genau beobachtet, ob es subtile Änderungen in der Rhetorik gibt, die ihnen helfen, die schwierigen Marktbedingungen besser zu navigieren.
Fazit: Wachstum ohne Phantasie
Chinas unerwartet hohes Wirtschaftswachstum von 4,5 Prozent im ersten Quartal bedeutet, dass es unwahrscheinlich ist, dass zusätzliche Stimuli für die Wirtschaft als erforderlich angesehen werden. Stattdessen ist es wahrscheinlicher, dass die politische Führungsriege sich auf Maßnahmen konzentriert, um die Beschäftigung zu stabilisieren, den Konsum anzukurbeln und den Privatsektor wiederzubeleben. Insbesondere wird die High-End-Fertigungsindustrie wahrscheinlich mehr politische Unterstützung erhalten, da sowohl Xi Jinping als auch Premierminister Li Qiang in jüngster Zeit eine Reihe von Fabrikbesuchen durchgeführt haben.
Ob all dies ausreicht, um den avisierten Weg in Richtung technologische Unabhängigkeit weiter erfolgreich zu beschreiten angesichts der geopolitischen Spannungen mit den USA, bleibt abzuwarten. Zumindest besteht nach dem Telefonat zwischen Xi Jinping und dem ukrainischen Präsidenten Selenksyj die Hoffnung, dass die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Europa vielleicht repariert werden können. Schaden würde es der chinesischen Wirtschaft nicht und auch die Investoren könnten neuen Mut fassen.
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