„Value oder Growth Aktien?“ Es vergeht kein Tag, an dem nicht diese Frage aufs Neue diskutiert wird. Bis 2020 war Growth König, heute reüssiert Value. Im ersten Teil einer lockeren Serie rollen wir die Debatte auf und arbeiten das für Anleger Wesentliche heraus.
Growth Aktien kontra Value Aktien: Die Frage, welcher Investmentstil der bessere sei, ist Legende. Die Debatte wird mitunter so zugespitzt geführt, dass man Growth und Value als ein sich ausschließendes Gegensatzpaar verstehen könnte. Warum das nicht so ist und die Zuspitzung kontraproduktiv wird folgend aufgearbeitet. Zunächst die Basics.
Growth Aktien vs. Value Aktien: Die Zerrbilder
Growth Aktien sind seit jeher die Favoriten vieler Anleger. Der Glamour-Faktor ist hoch. Growth Unternehmen wachsen schnell und wirbeln durch ihre Innovationen ganze Branchen durcheinander. Das weckt die Fantasie der Anleger, angetrieben von oftmals rasanten Kursgewinnen. Dass solche Unternehmen oft von charismatischen Unternehmern geführt werden, die ihren Visionen nachgehen, ist ein inhärenter Teil der Growth-Story. Apples Steve Jobs oder Teslas Elon Musk sind nur zwei Beispiele für erfolgreiche Disruptoren. Technologie-Unternehmen stehen beispielhaft für Growth.
Dass Growth zieht, liegt auch daran, dass das Pendant ziemlich unspannend daherkommt: Value Aktien gelten als Langweiler. Hinter ihnen stehen eher träge wachsende Konzerne, die zwar stetige Gewinne erwirtschaften und hübsche Dividenden ausschütten, sich aber eher durch Beharrungsvermögen und Solidität als unternehmerische Dynamik auszeichnen. Energiekonzerne und Versorger, früher auch Banken, stehen für den Value-Stil.
Wenn wir jetzt Warren Buffett und Charlie Munger (Spitze von Berkshire Hathaway) als die bekanntesten Value-Verfechter (als Konzernlenker, nicht nur als orakelnde Investoren) hervorheben, ist klar, dass die Schlagworte Value und Growth eher Zerrbilder darstellen, als dass sie die Realität widerspiegeln. Buffett hat sich immer gegen ein derartiges Schubladen-Denken gesträubt, wie wir gleich sehen werden. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die Präferenz von Value oder Growth eine Glaubensfrage ist, und die duldet nur ein Entweder-Oder.
Growth vs. Value: Das Windhundrennen
Versinnbildlicht wird die Debatte „Growth vs. Value“ durch die ständigen Performance-Vergleiche zwischen Growth und Value Aktien. Und die Unterschiede sind markant, wie der Vergleich zwischen dem MSCI World Growth und MSCI World Value zeigt. Beide Indizes werden seit Ende 1974 berechnet. Über 40 Jahre war die Sache klar: Der Value-Index konnte sein Growth-Pendant stetig outperformen. Der solide Langweiler war der bessere Langstreckenläufer – wobei der Growth-Index immer wieder durch furiose Sprints Boden gut machte, die jedoch oft in Übertreibungen und Korrekturen einmündeten. Im März 2000, in den allerletzten Zügen der Tech-Rally, hatte es kurzzeitig so ausgesehen, als ob die glamourösen Growth-Werte den Value Index hinter sich lassen würden – nur um dann im Stahlgewitter der Tech-Korrektur zwischen 2000 und 2003 regelrecht zu implodieren.
Es sollte 19 weitere Jahre dauern, bis der MSCI World Growth den MSCI World Value einholte. Viel spektakulärer als die Underperformance von Value während der großen Finanzkrise – Ihr erinnert Euch: Banken, die Dividendenkönige von damals, standen nach der Lehman-Pleite am Abgrund – war die stetige Underperformance von Value seit 2012. In diesem Jahrtausend erlitten Value-Aktien bis Mitte 2020 eine der dramatischsten Underperformance-Phasen in ihrer Geschichte. 2019 war es dann so weit: Der MSCI World Growth schob sich im langjährigen Windhundrennen vor den MSCI World Value, der sich 2020 noch einmal beschleunigte. In dem Jahr lag der Vorsprung bei über 35 Prozentpunkten! Die vergangene Dekade hat die historische Bilanz auf den Kopf gestellt. Aus hypothetischen 10.000 US-Dollar, die Ende 1974 in den MSCI World Growth investiert wurden, sprangen bis heute gut 397.400 Dollar heraus; aus einem entsprechenden Investment in den MSCI World Value wurden 317.100 Dollar.
MSCI World Value vs. MSCI World Growth 1974-2022: Marathonläufer geht die Puste aus
Was aus einem hypothetischen 10.000 Dollar Investment wurde, jeweils Preisindizes, Daten per 16.8.2022, Quelle: Morningstar
Seit Ende 2020 hat sich die Debatte erneut verschoben. Im Zuge stark steigender Inflation, der Zinswende und hoher Energiepreise feiern Value Aktien ein Comeback. Der MSCI World Value stieg seit August 2020 annualisiert um 11,4 Prozent, der MSCI World Growth um jährlich nur 6,4 Prozent. Viel bedeutsamer als diese Zahlen ist jedoch das spektakuläre Scheitern vieler Highgrowth-Champions an der Börse, das an das Platzen der Tech-Bubble ab 2000 erinnert. Die Kurse von Unternehmen wie Roku, Robinhood, Twilio, Teladoc, Zoom oder Shopify sind im vergangenen Jahr um bis zu 90 Prozent eingebrochen. Growth-Investoren wie Cathie Wood (Ark Invest) oder Masayoshi Son (Softbank) haben ihren Anlegern hohe Verluste beschert.
In Zeiten steigender Zinsen stehen die spektakulären Gewinner der Pandemie heute als spektakuläre Verlierer da. Cash ist heute für Anleger King, und den produzieren derzeit vor allem Value Unternehmen – etwa Energie-Konzerne aus der vermeintlich überwundenen Karbon-Vergangenheit. Deren Aktien glänzen in diesem Jahr mit zweistelligen Gewinnen. „Value returns with a vengeance“, beschrieb es das Investmenthaus JPMorgan Asset Management in dramatischen Tönen. Viele Fondsmanager erwarten, dass Value auch in Zukunft reüssieren wird. Vanguard etwa sieht für die kommenden zehn Jahre eine jährliche annualisierte Outperformance von fünf bis sieben Prozent für Value!
Definitionen und Klassifizierungen: viel Schall und Rauch
Auf dem Papier sind die Unterschiede zwischen Growth Aktien und Value Aktien deutlich. Value Aktien zeichnen sich durch niedrige Bewertungen aus. Ihre „Substanz“ wird also am Markt zu günstigen Kursen gehandelt. Der Value Faktor findet seinen Niederschlag in niedrigen Kurs-Gewinn-, Kurs-Umsatz-, Kurs-Buchwert- oder Kurs-Cashflow-Verhältnissen (KGV, KUV, KBV, KCF). Ein typisches Value-Merkmal sind auch hohe Dividendenrenditen.
Growth Unternehmen zeichnen sich dagegen durch hohes Umsatz- und/oder Gewinn-Wachstum aus. Dividenden sind oftmals Fehlanzeige – was auch logisch ist: Wenn sich ein innovatives, disruptives Unternehmen anschickt, seinen Markt aufzurollen, dann gilt es, jeden erwirtschafteten Cent in das weitere Wachstum zu stecken und nicht Aktionäre mit Dividenden zu beglücken. Als Microsoft 2003 ankündigte, Dividenden zahlen zu wollen, wurde das als Zeichen gewertet, dass Bill Gates und Steven Ballmer (nach mehrfachen kostspieligen und wenig erfolgreichen Akquisitionen im TMT-Bereich) lohnende Investment-Ziele abhanden gekommen seien.
Illustrieren wir diese Unterschiede zwischen Growth und Value anhand der Konstruktionsprinzipien der beiden oben vorgestellten MSCI-Indizes. Der MSCI World Value wird anhand von drei Variablen zusammengebaut: KBV, das geschätzte 12-Monats KGV und die Dividendenrendite. Der MSCI World Growth Index setzt auf das langfristige und kurzfristige (geschätzte) Gewinn-Wachstum, die organische Wachstumsrate sowie das langfristige Umsatzwachstum.
Die Morningstar Style Box für Aktien ist breiter angelegt, wird aber anhand derselben Prinzipien berechnet. Diese Matrix zählt zu den einflussreichsten Klassifizierungssystemen für Aktien, weil sie darüber entscheidet, ob ein Fonds oder ETF in die Growth- oder in die Value-Seite des Marktes eingestuft wird. Das Morningstar Sterne-Rating wird wiederum anhand dieser Klassifizierung vergeben – und für Millionen von Anlegern und Beratern weltweit gelten die Morningstar Sterne als entscheidendes Investment-Kriterium.
Berechnet wird die Morningstar Style Box für Aktien aus zwei Scores: dem Value Score, der sich aus (Forward) KGV, KBV, KUV, KCF und Dividendenrendite zusammensetzt, und dem Growth Score, der sich aus langfristig geschätztem Gewinnwachstum, historischem Gewinnwachstum, Umsatzwachstum, Cashflow-Wachstum und Buchwert-Wachstum zusammensetzt. Schlussendlich wird der Value-Score vom Growth-Score abgezogen. Ist der Wert negativ, handelt es sich nach der Morningstar Definition um eine Value Aktie, ist der Wert positiv, ist es ein Growth-Titel. Bei ähnlich hohen Value und Growth Scores wird die Aktie dem „Core“-Bereich zugeordnet.
It’s the Cashflows, Stupid!
Nach der klassischen Lehre haben Value Aktien mit Wachstum also wenig am Hut, Growth nichts mit Bewertungen. Und wenn das Bild nicht klar ist, dann handelt es sich eben um „Core“. Herzlichen Glückwunsch! Dass die Praxis unendlich viel komplexer ist, zeigt der Umstand, dass so gut wie alle Value-Investoren zumindest ein Auge für Wachstum haben. Für sie ist das Dividendenwachstum ein mindestens ebenso wichtiges Kriterium wie die bloße Dividendenrendite. Vielsagend ist auch, dass sich Datenpunkte wie Cashflow, Umsatz oder Gewinne im Mittelpunkt vieler Value-Kennzahlen befinden.
Die allermeisten Growth-Anleger wiederum legen Wert darauf, nicht zu viel für Wachstum zu zahlen. Ihr Mantra lautet daher: „Growth at a reasonable price“ (GARP), das vom langjährigen Fidelity Fondsmanager Peter Lynch populär gemacht wurde. GARP-Investoren kombinieren Value- und Growth-Kennzahlen und fügen gerne noch etwas Qualität hinzu – in Gestalt von Kennzahlen wie die Verschuldungsquote, Eigenkapitalrenditen oder die Rendite auf das investierte Kapital. In der Praxis sind Growth und Value also keine feindlichen Brüder, sondern zwei Seiten einer Medaille; die einen legen den Schwerpunkt auf die Cashflows der Gegenwart, die anderen auf die in der Zukunft – und auf den Preis dieser Cashflows. Untersuchungen zeigen, dass ein quantitativer GARP-Ansatz das Beste aus den beiden Welten zutage gefördert hätte.
Das letzte Wort überlassen wir Warren Buffett: „There is no such thing as growth and value stocks“, sagte Buffett auf der Berkshire Hathaway Investment Konferenz 2001. Die Debatte Growth vs. Value sei eine künstliche, die von den vermeintlich smarten Bankern der Wall Street angezettelt werde, so Buffett. Jeder, der behaupte, ein Value oder Growth Anleger zu sein, wisse in Wahrheit nichts über das Investieren. Er und sein Sozius Charlie Munger werden nicht müde hervorzuheben, worauf es wirklich ankommt: Gute Geschäftsmodelle zu finden, die von einem guten Management geleitet werden und die zu einem Discount zu haben sind. „Wir investieren unser Cash heute, um mehr Cash zurück zu bekommen“, brachte es der Altmeister in einem seiner vielen legendären Auftritte mit Munger im Jahr 2001 auf den Punkt.