Die Bilanz der Märkte im ersten Halbjahres ist zappenduster, und der Ausblick ist auch nicht rosig: Die Zinsen werden weiter steigen, die Inflation bleibt hartnäckig und die Wirtschaft wird Schaden nehmen. Es gibt dennoch gute Gründe, nicht nervös zu werden – auch wenn das Ende der Korrektur noch nicht in Sicht ist.
Anleger sind janusköpfig. Sie gelten so lange als notorische Optimisten, bis sie zu Doomsday-Propheten werden. Ersteres war über lange Strecken der letzten Jahre, vor allem nach dem kurzen Corona-Crash, zu beobachten. Wer sich dagegen in diesen Tagen Finanzmedien und den Kommentaren von Analysten widmet, könnte zum Schluss kommen, dass das Ende der Welt naht.
Im Juni brachen bei Risikomärkten die Dämme
Fangen wir mit der Performance der großen Aktienmärkte im Juni an. Hatte im Mai noch eine furiose Monats-End-Rally viele Indizes wieder in positives Terrain gehievt, so ging es im Juni so richtig abwärts – erst recht zum Monatsende hin.
Am letzten Tag im Juni verlor der DAX 1,7 Prozent. Das bringt die Monatsbilanz des deutschen Leitindex auf ein Minus von gut elf Prozent. Der MDAX verlor im Juni gut 13,5 Prozent, der SDAX sogar knapp 14 Prozent. Damit zeigten deutsche Aktien wieder einmal ihr zyklisches Gesicht.
Das bringt uns zu einem ersten wichtigen Zwischenfazit. Nachdem sich Investoren lange Zeit gegen die Erkenntnis gewehrt hatten, dass Inflation und steigende Zinsen unvermeidbare Folgen für die gesamtwirtschaftliche Lage haben, dämmert allen nunmehr, dass die Notenbanken ernst machen und sich anschicken, die Konjunktur weltweit durch eine geldpolitische Vollbremsung herunterzukühlen. Das bedeutet Unbill nicht nur für die stark exportabhängige deutsche Wirtschaft.
Die hohen Verluste von Energie- und Bankaktien weltweit zeigen eindrucksvoll, dass an den Märkten das Rezession Szenario den Zins- und Rohstoff-Trade abgelöst hat. Wir erinnern uns, dass wir Anfang des Jahres auf steigende Zinsen (gut für Banken), aber keine Rezession (schlecht für Banken) gesetzt hatten. Dieser Trade ist heute perdu.
Performance ausgewählter Märkte im Juni und im ersten Halbjahr
Aktien und Anleihen entspricht einem 50:50 Weltaktien-Euroanleihen Portfolio, Performance in Prozent und in jeweiliger Währung, Quelle: Morningstar
Auch weltweit geht es an den Risikomärkten gerade steil bergab. Der NASDAQ 100, der für viele Growth-Anleger ikonische Index, verlor im Juni knapp neun Prozent, dem breit gefassten S&P 500 (der viele Überschneidungen mit dem NASDAQ 100 aufweist) ging es mit minus 8,3 Prozent nicht viel besser. Interessant ist übrigens, dass es im Juni keinen Unterschied machte, ob man auf Growth oder Value setzte: weltweit verloren Growth und Value Indizes zwischen sieben und acht Prozent. Auch der Abstand zwischen Indizes für die Faktoren Momentum und Dividenden lag im Juni bei unter 80 Basispunkten (mit leichten Vorteilen für Dividenden). Deutlich besser als der „Rest“ schlugen sich unter den Indizes der Industrieländer nur Japan Aktien. Der Nikkei 225 verlor im Juni nicht-währungsbereinigt nur etwas über drei Prozent. Das alles führt zu einem Gesamtverlust von knapp neun Prozent beim MSCI World.
Das erste Halbjahr in historischer Perspektive
Weiten wir den Blick auf das erste Halbjahr insgesamt aus, dann sehen wir die schwächste Performance in einem Sechsmonatszeitraum seit Jahrzehnten. Der MSCI World brach in den ersten sechs Monaten um gut 20 Prozent ein – wie auch S&P 500 und DAX, die jeweils um knapp 20 Prozent verloren. Makro-Analyst Jim Reid von der Deutschen Bank hat den größten Verlust bei US-Aktien in einem ersten Halbjahr seit 1970 ausgemacht. Noch schlimmer erwischte es Growth-Aktien. Der NASDAQ 100 brach zwischen Januar und Juni um knapp 30 Prozent ein. Das weckt Erinnerungen an das Platzen der Dot-Com-Blase Anfang des Jahrtausends. Die untere Tabelle zeigt die Halbjahresrenditen einiger wichtiger Märkte. Man kommt nicht umhin, die Zahlen für dieses Jahr der Rubrik “Gruselig” zuzuschreiben.
Die Halbzeitbilanz ausgewählter Märkte
Aktien und Anleihen entspricht einem 50:50 Weltaktien-Euroanleihen Portfolio, farbliche Markierung zeigt Performance Rangfolge des jeweiligen Markts von rot (schlecht) bis grün (gut), in Prozent und in jeweiliger Währung, Quelle: Morningstar
Doch es gab 2022 auch auf der Aktienseite Lichtblicke: Japan Aktien konnten die Verluste deutlich begrenzen. Im ersten Halbjahr verlor der bereits erwähnte Nikkei 225 nur 7,5 Prozent (der Verlust fällt wegen der starken Abwertung des japanischen Yen aus Sicht von Euro-Investoren allerdings fast doppelt so hoch aus). Britische Standardwerte halten sich in diesem Jahr noch besser – der FTSE 100 verliert auf Pfund-Basis nur knapp ein Prozent; auch aus Sicht von Euro-Anlegern ist der währungsbereinigte Verlust mit knapp 3,5 Prozent erträglich. Doch weil britische und japanische Aktien in einem klassischen Weltportfolio in Summe nur rund zehn Prozent ausmachen, hat das UK- und Japan-Exposure von Anlegern die Schmerzen allenfalls gelindert.
Wir hatten eben die Währungsfront erwähnt. Mit den Ausnahmen von Yen und Pfund haben Anleger aus dem Euro-Raum im ersten Halbjahr überwiegend Vorteile aus der Diversifikation über mehrere Währungsräume gezogen. In erster Linie ist der US Dollar zu nennen, der zwischen Januar und Juni gegenüber dem Euro um knapp neun Prozent aufwertete. Aus dem Minus von 20 Prozent beim S&P 500 wurde also ein erträglicher Verlust von 13 Prozent aus Sicht von Euro-Investoren. Das hatte auch erfreuliche Folgen für die Performance von Rohstoffen – Energie, Industrierohstoffe und Gold. Sie werden in Dollar gehandelt. Der Goldpreis trat in diesem Jahr zwar auf der Stelle, für Euro-Anleger sprang aber ein Plus von rund neun Prozent heraus. Breit diversifizierte Rohstoffkörbe stiegen aus Sicht von Euroanleger eher um rund 30 Prozent als um 20 Prozent auf Dollar-Basis.
Das bringt uns zu den Segmenten der Aktienmärkte, in die Anleger hierzulande nur in homöopathischen Dosen investieren: Aktien aus Schwellenländern. Wer sich den MSCI World zum Maßstab macht, investiert überhaupt nicht in Schwellenländer Aktien; wer sich am MSCI All Country World Index orientiert, hat immerhin einen Schwellenländer-Anteil von rund zehn Prozent. Das hat in diesem Jahr geholfen. Sowohl EM Aktien als auch Währungen konnten für Euro-Anleger die Verluste minimieren. Der MSCI Emerging Markets Index verlor aus Sicht von Euro-Anlegern in diesem Jahr unter zehn Prozent, im Juni betrug das Minus nur gut drei Prozent.
Hinter dieser erfreulichen Performance steht die bemerkenswerte Erholung von China Aktien. Angeführt von den stark gebeutelten Internet Aktien legten die wichtigen China Indizes im Juni so stark zu wie schon seit Jahren nicht mehr in einem Monat. Der CSI 300 legte aus Sicht von Anlegern in Deutschland um 12,5 Prozent zu, der breiter gefasste Index MSCI China stieg um gut sieben Prozent. Damit wurden die VerIuste von China Aktien in diesem Jahr auf teilweise deutlich unter zehn Prozent gesenkt. Auch wenn das die grundsätzlichen Zweifel von manchen Anlegern an der Investierbarkeit in China nicht ausräumt, zeigt die Entwicklung, dass der Zyklus in China in einem ganz anderen Stadium ist: Die Geldpolitik wird dort gelockert, die Restriktionen für den Tech-Sektor auch, und die zahlreichen Börsengänge zeigen, dass zumindest die Regulierungswut im Finanzsektor zurückgefahren wird.
Anleihen: Das große Re-pricing
Kommen wir nun zu der Performance von Anleihen. Der bereits erwähnte Deutsche Bank Analyst Jim Reid hat nicht nur den Bleistift bei Aktienrenditen gespitzt, sondern für US-Anleihen ermittelt, dass die Verluste 2022 die höchsten Halbjahresverluste bei Treasuries seit 1788 waren. George Washington würde sich also in dieser Hinsicht im Hier und Jetzt zurechtfinden! In Zahlen ausgedrückt: Der REXP hat in diesem Jahr über sieben Prozent verloren, Euro-Anleihen, bei denen auch Bonds aus dem Club Med enthalten sind, brachen um über 12,5 Prozent ein, und globale Anleihen verloren (in Dollar gerechnet) fast 14 Prozent. Die Performance von Unternehmensanleihen erinnert mit Verlusten von 15 Prozent nicht von ungefähr an Aktien.
Die tiefrote Anleihenbilanz 2022
Bis auf REXP jeweils Bloomberg TR-Indizes, Performance in lokaler Währung und in Prozent, Quelle: Moringstar
Die Performance von Anleihen ist gleich auf mehreren Ebenen relevant. Zum einen zeigen sie, dass Anleger mit Anleihen keine Chance hatten, Aktienportfolios zu diversifizieren. (Das wäre allenfalls mit Gold und Rohstoffen möglich gewesen.) Hintergrund ist, dass Anleihen vom Wechsel von dem lange herrschenden Deflationsparadigma zu einer neuen Inflationsrealität dramatisch betroffen wurden. Auch wenn die Renditen absolut gesehen nach wie vor auf relativ niedrigen Niveaus sind, sind latente, stetig steigende Zinsänderungsrisiken in diesem Jahr aktuell geworden: Die Renditen sind im Zuge der Inflation nach oben geschossen. Mit den oben beschriebenen Folgen.
Doch das bringt uns zur spannenden Frage: Was sagen uns die Rentenmärkte heute? Auch wenn die Renditen im Juni in nahezu allen Segmenten weiter gestiegen sind, zeigen die Kursgewinne bei Anleihen Ende Juni, dass das Rezessionsszenario auch bei Anleihen anfängt zu greifen. Die Logik ist klar: Steigen die Notenbanken so stark auf die Bremse, dass sich die Wirtschaft spürbar verlangsamt, fängt das alte Spiel an zu wirken: irgendwann ist der Punkt erreicht, ab dem der Zinszyklus wieder dreht. Dieses Szenario wurde in den vergangenen Tagen gerade bei längeren Laufzeiten gespielt. Das könnte bedeuten, dass Anleihen wieder in der Lage sein werden, Aktienportfolios zu diversifizieren. Es wäre demnach also falsch, sich heute von (bonitätsstarken) Staatsanleihen zu verabschieden.
Fazit und Ausblick
Das Fazit aus der Halbjahres-Performance der Märkte ist schnell formuliert: Anleger sind gerade hochdepressiv. Nachdem zunächst die Kurse von Wachstumswerten (inklusive Kryptos) aus Angst vor steigenden Zinsen nach unten gedrückt wurden, greift derzeit die Rezessionsangst um sich. Das zeigen die zuletzt stark gefallenen Kurse von Bank- und Energieaktien.
Das bringt uns zum Ausblick. Im Worst-Case-Szenario kann es dazu kommen, dass die Wirtschaft abstürzt, die Arbeitslosigkeit nach oben schnellt und Kredite in großem Stil ausfallen. Dann bekämen es Europa und die USA mit einer handfesten Depression zu tun. Aber so weit sind wir noch längst nicht. Der Absturz der Märkte sagt momentan am ehesten etwas über die emotionale Verfasstheit der Anleger aus. Doch Emotionen sind selten gute Ratgeber, wenn es ums Investieren geht.
Klar ist, dass das heißgeliebte Goldilocks-Szenario für die nächsten Jahre beerdigt ist. Die Zinsen sind nicht gerade richtig hoch, das Wachstum ist nicht stark genug, und die Inflation macht uns zu schaffen. Aber muss es gleich eine Depression sein? Bezeichnend ist, dass aktuelle Meldungen über die Solidität der Banken weitgehend ignoriert werden. Man spielt derzeit lieber das Lied vom Märktetod. Doch diese Meldungen könnten, wie immer in Zeiten von Kapitalmarktkorrekturen, stark übertrieben sein. Langfristanleger wissen, dass die beste Performance dadurch zustande kommt, nicht dann zu verkaufen, wenn die Nervosität am höchsten ist.
Die untere Grafik zeigt die langfristigen Zehnjahresrenditen verschiedener Indizes. Die einzelnen Endpunkten illustrieren die jährliche Performance der zurückliegenden Zehnjahreszeiträume. Zwei Schlüsse lassen sich aus der Grafik ziehen. Einmal erzielen die meisten Märkte ansehnliche Langfrist-Renditen. Aber – zum zweiten – verschweigt der Kurvenverlauf nicht, dass auch ein langer Atem beim falschen Timing nicht immer zum Erfolg führt. Die beste Performance wurde seit 1990 erzielt, wenn der Einstieg nach oder während einer Korrektur erfolgte. Am japanischen Markt waren die Durststrecken am häufigsten, am längsten und am tiefsten. Ansonsten lieferten die fünf Märkte weiter unten nur zum Ende der „verlorenen Dekade“ im Jahr 2010 durch die Bank negative Langzeitrenditen.
Langfristig fast immer positiv: Die rollierenden Zehnjahresrenditen ausgewählter Indizes
Punkte beschreiben die annualisierte Performance zum Ende von Zehnjahres-Zeiträumen, in 6-Monatssprüngen, in Prozent und in lokaler Währung, Daten per 30.6.2022, Quelle: Morningstar