Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat gezeigt, dass die Geopolitik auch für die Investmentwelt relevant ist. Unsicherheit und Angst haben Anleger und Märkte erfasst. Die sich abzeichnende Niederlage der russischen Armee scheint die Lage weiter zu verschärfen. Wir gehen mit diesem Beitrag auf einige wichtige Fragen für ein besseres Verständnis der geopolitischen “Zeitenwende” ein.
Die Geopolitik ist zurück! Die Maxime, wonach politische Börsen kurze Beine haben, mag für Ereignisse wie Bundestagswahlen gelten. Aber im Jahr 2022 sind wir mit existentiellen sicherheitspolitischen Bedrohungen konfrontiert, die mit dem Ende des Ost-West-Konflikts Ende der 1980-er Jahre überwunden schienen. Anleger stehen vor vielen Fragen: Wie stark bedroht die russische Aggression die Stabilität Europas und der Welt? Welche Dimensionen der Bedrohung gibt es? Wie verändert der Konflikt zwischen dem aggressiven Revisionisten Russland und den westlichen Demokratien die globale Sicherheitsarchitektur? Wie scharf segelt China am Wind? Entsteht eine Front der autoritären Staaten, ein Zeitalter des „Strongman“ (Gideon Rachman) gegen den Westen? Wo steht der sogenannte globale Süden in der neuen Unordnung?
Anleger können es sich mehr nicht leisten, die Sicherheitspolitik als Hintergrundrauschen in den Nachrichten zu ignorieren. Die “Zeitenwende” ist real, und die neuen geopolitischen Realitäten sickern bereits jetzt auf die Investment-Ebene durch – siehe die Frage der Energiesicherheit und die Implikationen des amerikanisch-chinesischen Konflikts, die Unternehmen weltweit vor große Probleme stellt. Wer sich gegen diese neuen Herausforderungen wappnet, wird von den Ereignissen zwar nicht verschont, aber eben auch nicht überrollt – und kann sich im Rahmen des Möglichen wappnen. Unsere geostrategische Checkliste für Finanzprofis.
Ist Putin irre?
Ist Putin irre? Auch heute treibt uns noch die Frage um, was den russischen Diktator getrieben haben mag, als er am 24. Februar zum Angriff auf die Ukraine blies. Anleger weltweit wurden von der Invasion auf dem falschen Fuß erwischt, auch wenn die britischen und US-Geheimdienste monatelang vor einer russischen Aggression gewarnt hatten. Einen Krieg vom Zaun zu brechen, erschien einfach undenkbar. Und alles, was Russland seitdem getan hat, erscheint ebenfalls vollkommen irrsinnig – sei es, mit der nuklearen Keule zu drohen, ukrainische Städte dem Erdboden gleich zu machen und Zivilisten zu töten, Nuklearanlagen zu bombardieren, die Mobilmachung einzuleiten, oder die vier Oblaste in der Süd- und Ostukraine zu annektieren.
Wir stehen vor dem Rätsel, warum Putin die Ukraine zerstört, die Existenz Russlands aufs Spiel setzt und bereit scheint, die Welt ins Elend zu stürzen. Unser Fehler ist dabei, dass wir dem russischen Diktator unterstellen, dass er unserer Denklogik folgt. Wir verabsolutieren unsere Maßstäbe und unterstellen, dass alle „vernünftigen Menschen” ähnlich denken. Das ist erkennbar falsch, wie uns der ehemalige KGB Agent immer wieder lehrt. Ideale wie Frieden, Demokratie und Freiheit sind Putins Prioritäten erkennbar nicht, und wer seine Armee rücksichtslos einsetzt wie Putin, wird Verluste anders werten, als es in westlichen Demokratien der Fall ist. (Dass divergierende Werte unterschiedliche Präferenzen bedingen, die wiederum anders geartete Risikoabwägungen zur Folge haben, hat interessante Folgen für die Prospect Theory, die eine universell gültige Definitionen von Risikoaversion und damit einheitliche Entscheidungspräferenzen unterstellt. Aber das ist ein anderes Thema.)
Die Entscheidung Putins zur Invasion war nicht irrational, sondern basierte auf einem logischen Kalkül. Der Westen ist nach seiner Lesart der Gegner. Der Feind mag die erste Etappe des Ost-West-Konflikts gewonnen haben, jetzt schlägt Russland zurück. Die Ukraine war seit 2014 im Begriff, in die “Einflusssphäre” der NATO/EU abzudriften. Das war für Putin aus der Logik der fortdauernden Systemkonkurrenz nicht akzeptabel. Zumal die Ukraine nach seinem Verständnis Teil des russischen Orbits und keine eigenständige Nation ist. Wer wollte, konnte dies in seinem Geschichtstraktat aus dem Jahr 2021 nachlesen.
Dass weite Teile des Westens der idealistischen Vorstellung des ewigen Friedens bis dieses Jahr nachhing, lag daran, dass wir die Sieger des Kalten Kriegs waren. Die Sowjetunion brach zusammen, Deutschland wurde wiedervereinigt, die Länder des ehemaligen Ostblocks waren frei und wurden Teil der EU und der NATO. Ab 1990 war die Dominanz der westlichen Industrienationen, (markt-)wirtschaftlich und militärisch, auf weltweitem Maßstab absolut. Die USA war zwischen 1990 und 2022 die einzige militärische Supermacht. Das war dem russischen Diktator ein Graus, und er machte bereits 2007 mit erstaunlicher Klarheit deutlich, dass sich Russland mit der NATO auf Konfrontationskurs befinde.
Typisch für Putins Denken ist der Umstand, dass für ihn die “größte geopolitische Katastrophe” des 20. Jahrhunderts nicht etwa der Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion und der Mord an Millionen von Sowjetbürgern, sondern der – weitgehend friedliche! – Untergang der Sowjetunion war. Dass er weite Teile des “nahen Auslands” mindestens als russische Einflusssphäre geltend macht, bedeutet, dass Russland heute eine revisionistische Macht ist, die den Sieg des Westens rückgängig machen will. Interessanterweise macht dieses Ziel Russland bedrohlicher als die Sowjetunion nach 1945: Die Sowjetunion war zwischen 1945 und 1990 als defensive Macht auf Besitzstandswahrung in Europa aus, Putin will dagegen die sicherheitspolitische Ordnung in Europa neu ordnen, was er – wiederum sehr deutlich – in seinem Ultimatum vom Dezember 2021 formulierte.
Vor diesem Hintergrund lautet die Antwort: Putin ist nicht irre, sondern er geht nach seiner revisionistischen Logik rational und kalkuliert vor. Der Krieg in der Ukraine ist also kein Unfall der Geschichte, der von “Schlafwandlern” bewirkt wurde. Russland führt seit Jahren einen hybriden Krieg mit dem Westen, der auch auf die Destabilisierung der westlichen Demokratien abzielt. Die Manipulation von Wahlen (USA 2016) und Medien (fortlaufend, auch 2022) haben aber erst seit dem 24. Februar dazu geführt, dass der Westen die Herausforderung – endlich –- annimmt und eine Gegenmacht zur russischen Aggression bildet.
Werden wir zur Kriegspartei?
Wir müssen also anerkennen, dass die Bedrohung durch Russland real ist – und darauf reagieren und uns schützen. Ob wir deshalb im Ukrainekrieg zur Kriegspartei geworden sind, ist dabei nicht ganz so klar. Seit dem Beginn der russischen Aggression sind die Länder der NATO und EU peinlichst darum bemüht, die Balance zu wahren: einerseits die Ukraine wirtschaftlich und militärisch zu unterstützen, andererseits alles zu tun, um zu vermeiden, in den Krieg “hineingezogen” zu werden. Folglich hält sich die NATO aus dem Krieg heraus, es werden keine Truppen in die Ukraine geschickt, und der Ukraine werden Waffensysteme vorenthalten, die als “offensiv” gedeutet werden könnten.
Rein rechtlich zählt die Unterstützung eines angegriffenen Staates gegen einen Aggressor völkerrechtlich nicht als Kriegshandlung. Aber durch unsere Reaktionen auf die russische Aggression sind wir faktisch zur Konfliktpartei geworden. Und wir sollten anerkennen, dass es beim Krieg in der Ukraine um die Verteidigung unserer Sicherheit und Werte geht.
Wir fangen an, uns einzugestehen, dass die Politik der Bundesregierungen nach 1990, auch nach der Krim-Annektion durch Russland 2014, Sicherheit mit Russland in Europa anzustreben, gescheitert ist. In Deutschland herrschte nach dem Ende des Kalten Krieges die Erwartung, dass ein immer engeres Netz an politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen zu Frieden und Wohlstand führen würde. Folglich wurde die Energiepartnerschaft mit Russland und die Abhängigkeit vom russischen Gas nur unter wirtschaftlichen Aspekten gesehen. Das russische Gas war billig, reichlich vorhanden – und hatte sich die Sowjetunion nicht selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges als zuverlässiger Energiepartner erwiesen? (Kaum zu ertragen, aber lesenswert: das Statement auf der Website des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft, das diese naive Geisteshaltung auch noch im Jahr 2020 widerspiegelt.) Dieser verfehlte Zukunftsoptimismus kennzeichnete leider nicht nur die Linie der deutschen Wirtschaft, sondern auch die deutsche Russlandpolitik bis zum 24. Februar 2022. In Berlin ging man bis zum Beginn des russischen Angriffskriegs davon aus, Deutschland sei “von Freunden umzingelt”.
Vor diesem Hintergrund ist die Verkündung der “Zeitenwende” durch Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar so bedeutsam. Sie stellt eine grundlegende Neuausrichtung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutschlands dar, wie Scholz in einem Gastbeitrag für die FAZ erläuterte:
Aus der Zeitenwende folgt ein Handlungsauftrag – für unser Land, für Europa, für die internationale Gemeinschaft. Wir müssen Deutschland sicherer und widerstandsfähiger machen, die Europäische Union souveräner und die internationale Ordnung zukunftsfester.Zur neuen Wirklichkeit gehören die 100 Milliarden Euro, die wir als Sondervermögen für die Bundeswehr beschlossen haben. Sie markieren die größte Wende in der Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland. Wir statten unsere Soldatinnen und Soldaten mit dem Material und den Fähigkeiten aus, die sie brauchen, um unser Land und unsere Bündnispartner in dieser neuen Zeit kraftvoll verteidigen zu können.
Noch bedeutsamer als die deutsche 180 Grad-Wende ist die neue Russland-Politik der NATO. Russland galt bis zur Invasion 2022 offiziell noch als Partner der NATO in Sicherheitsfragen. Mit der Verkündung des neuen strategischen Konzepts des Bündnisses in Madrid im Juni dieses Jahres wurde die Beziehung zu Russland den neuen Realitäten angepasst: Seitdem ist Russland für die NATO „die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euroatlantischen Raum“. Das macht uns nicht zur Kriegspartei, aber wir haben uns damit eindeutig gegen Russland aufgestellt. Nicht die Kooperation mit Russland, sondern der Schutz vor Russland steht bis auf Weiteres auf der sicherheitspolitischen Agenda des Westens.
Was sind die nächsten Eskalationsschritte – und wo enden sie?
Anfang September konnte die ukrainische Armee in wenigen Tagen fast den gesamten Oblast Charkiw zurückerobern, aktuell wackelt die russische Front in Luhansk bedenklich, und die Lage der russischen Armee in Kherson ist so prekär, dass die russische Generalität laut Medienberichten für einen Rückzug über den Dnjepr plädierte.
Putin versucht stattdessen, die bisherigen Eroberungen durch Taschenspielertricks zu sichern. Er dreht weiter an der Eskalationsschraube – nächste Stationen lauten: die Teilmobilmachung und die Annektion von vier ukrainischen Oblasten. Aktuell werden tausende russische Reservisten eingezogen, und die Propaganda-Abstimmungen in den besetzten ukrainischen Gebieten haben das bereits vorher feststehende Pro-Anschluss-Ergebnis bestätigt. Sind die vier Oblasten nach Deutung Moskaus Teil des russischen Staatsgebiets, könnten sie mit allen Mitteln gegen ukrainische “Angriffe” verteidigt werden – auch mit Atomwaffen.
Was steht als Nächstes an? Ausgemachte Sache ist, dass die Eskalation Russlands weitere Sanktionen der USA und der EU nach sich ziehen wird. Als Reaktion auf die Mobilisierung und die Annektion der vier Oblasten arbeitet die EU an ihrem 8. Sanktionspaket, und auch die USA haben “harte und schnelle” Sanktionen angekündigt. Führt uns die Eskalation schnurstracks in den nuklearen Winter?
Final beantworten kann diese Frage natürlich nur Putin, aber es spricht vieles dagegen. Da ist einmal die Historie des Ukraine-Krieges. Es ist nicht das erste Mal, dass Russland mit dem Einsatz von Atomwaffen droht. Was im Februar noch für Alarmstimmung im Westen gesorgt hatte, wird heute eher als Bluff eines Pokerspielers eingeschätzt, der seine Hand überspielt hat. Der Westen unterstützt die Ukraine militärisch und wirtschaftlich unverdrossen weiter – wenn auch nicht uneingeschränkt – und hat damit bereits mehrfach von Moskau gezeichnete, diffuse rote Linien überschritten.
Der rational handelnde Putin wird nicht von Hitlers Selbstzerstörungswillen besessen sein, sondern versuchen, das Beste für Russland rauszuholen. Ihm ist klar, dass ein Nuklearkrieg gegen die NATO in der Vernichtung Russlands enden würde. Wer also argumentiert, dass die Eskalationsspirale zwangsläufig im nuklearen Armageddon einmünden wird, deutet Putin falsch – wieder einmal.
Bisher mussten wir an jeder Wegmarke im Krieg feststellen, dass Putin nach einer anderen Logik als unserer handelt. Um Russland beizukommen, müssen wir uns die Mühe machen, seine Logik zu verstehen. Bisher haben wir Putins Eskalationswillen unterschätzt, mit Blick auf den Einsatz von Nuklearwaffen trauen wir Putin dagegen zu viel zu. Die USA und Großbritannien haben durchblicken lassen, dass die Konsequenzen auch eines Einsatzes von Nuklearwaffen in der Ukraine eine militärische Antwort zur Folge hätte. Auch haben China und Indien ihr Missfallen über den russischen Feldzug geäußert. Diese beiden Mächte, aber auch der gesamte “globale Süden”, der sich überwiegend nicht klar positioniert hat, würden sich gegen Russland stellen. Was das wohl bedeutet, wenn ein Pokerspieler bekräftigt, dass er nicht blufft? Putin ist ein rationaler, brutaler Machtpolitiker, ein Selbstmörder ist er aller Wahrscheinlichkeit nicht.
Und was ist mit China?
Die Fixierung auf Russland hat dazu geführt, dass das große sicherheitspolitische Thema des vergangenen Jahrzehnts, der Aufstieg Chinas zur zweiten Supermacht, von der Agenda verdrängt wurde. Aber China zu unterschätzen würde bedeuten, denselben Fehler, den wir mit Blick auf Russland begangen haben, zu wiederholen. Mich persönlich hat das Interview des seinerzeitigen VW-Chefs Herbert Diess gegruselt, in dem er die wirtschaftliche Abhängigkeit von China zu einer Art teutonischer Tugend hochstilisierte. (“Meinen Führungskräften sage ich immer: Ein Großteil eures Bonus wird in China erwirtschaftet”.)
China erhebt nicht nur Ansprüche auf eine Hegemonie in Südasien. Hinzu kommt, dass China immer aggressiver gegen Taiwan auftritt und sich auch in den Wirtschaftszonen von Ländern wie den Philippinen und Indonesien breitmacht. Mit einer gezielten Aufrüstung, wirtschaftspolitischer Expansion in Afrika und Europa, Cyber-Attacken, Wirtschaftsspionage und dem Diebstahl von intellektuellem Eigentum in strategisch wichtigen Industrien geht China auf Konfrontationskurs zu den westlichen Demokratien. Sicherheitsexperten gehen davon aus, dass die nächsten Dekaden von einem chinesisch-amerikanischen Dualismus in der internationalen Politik geprägt sein werden – der bestenfalls nur ein zweiter Kalter Krieg zu werden droht.
Die europäische Politik, und insbesondere Deutschland, werden nicht umhin kommen, auf die chinesische Herausforderung zu reagieren. Die USA haben die Zeichen der Zeit erkannt, und es ist auffällig, dass der unter Donald Trump massiv vorangetriebene “Roll-back” gegen China – Handelsbarrieren, Sanktionen, militärische und politische Gegenmaßnahmen – von der Biden-Administration weitergeführt wird. Die Hervorhebung des ideologischen Gegensatzes zwischen amerikanischer Demokratie und chinesischer Diktatur und die offene Unterstützung der Biden-Administration für Taiwan deuten an, dass sich die Konfrontation der beiden Supermächte im Zweifel weiter verschärfen wird.
Dass China auch in der neuen NATO-Strategie als Herausforderung erwähnt wurde, zeigt, dass die europäischen Verbündeten im sich anbahnenden Konflikt mit China nicht neutral verhalten werden können – und auch nicht sollten. Die Zeit der großen deutschen Naivität, die uns in wirtschaftliche Abhängigkeit von China und den Verlust unserer Energiesicherheit durch blindes Vertrauen auf Russland gebracht hat, geht zu Ende. Anleger sollten diese Botschaft zur Kenntnis nehmen. Dabei stehen ihnen auch Handlungsoptionen offen.
Handlungsempfehlungen für Anleger
Welche Konsequenzen sollten Anleger aus dem beunruhigenden “New Normal” der internationalen Politik ziehen? Eine – selbstverständlich nicht repräsentative – Umfrage auf Twitter ergab, dass viele Anleger das Thema Geopolitik nicht auf der Agenda haben. Viele investieren wie bisher. Für 49 Prozent der Befragten spielen geopolitische Risiken keine Rolle, 22 Prozent gaben an, die aktuelle Marktschwäche für Käufe zu nutzen. “Ich kann keine Makro-Calls, ich kaufe wenn der Markt fällt”, berichtete uns ein User. “Spielt keine Rolle, ich kaufe stur nach Plan weiter”, meinte ein anderer.
Immerhin sehen 29 Prozent der Teilnehmer die geopolitischen Veränderungen als Grund an, anders zu handeln als bisher. “Ich lege nur in Nordamerika und Westeuropa an”, so eine vorsichtige Stimme. “Nach Hongkong bin ich raus aus China”, präzisiert ein weiterer User.
Geopolitische Fragen in seine Investmententscheidungen einzubeziehen, bedeutet nicht, alles über Bord zu werfen, was bisher funktioniert hat. Es geht eher um Nuancen. Keine gute Lösung erscheint mir dagegen, sich auf den Standpunkt zu stellen, man sei ein “Bottom-up Stockpicker” und damit ausschließlich auf die Unternehmensebene konzentriert. (Ich hege sowieso Zweifel, dass Stockpicker wirklich glauben, dass sie vollkommen kontextfrei Aktien aussuchen.)
Die Prämissen hinter unseren Empfehlungen: Wir unterstellen, dass liberale westliche Demokratien mit ihrem System der freien Marktwirtschaft die beste (nicht die perfekte) Staatsform darstellen. Wir setzen voraus, dass die internationale Politik in der nächsten Dekade vom Konflikt zwischen demokratischen und autoritären Systemen geprägt sein wird. Dieser Konflikt wird mit einer Lagerbildung einhergehen. Dabei liegt es nahe, dass diese Lagerbildung trennschärfer verlaufen wird als im Kalten Krieg, als sich die blockfreien Staaten bewusst weder Moskau noch Washington anschlossen.
Wer diese Prämissen akzeptiert, kann mit vielen Variablen arbeiten und sie als “Filter” in seinen Investmentprozess integrieren. Dabei muss es sich nicht um Negativ-Screenings handeln, die rigoros die “Sünder” aussortieren. Im Gegenteil: Vielleicht kommen wir anhand unseres Researchs zum Schluss, dass ein Investment in China oder Kasachstan rentierlich sein könnte. Ein “Demokratiefilter” könnte genutzt werden, um eine zusätzliche Risikoprämie zu taxieren bzw. einen höheren Abschlag auf den Fair Value einer Aktie vorzunehmen. Umgekehrt könnten Anleger bei einer Verschärfung globaler Konflikte bereit sein, in einem Quality-Ansatz eine Prämie für Unternehmen / Bonds aus Demokratien zu bezahlen bzw. einen Aufschlag auf den Fair Value zu akzeptieren.
Folgende Tools bieten eine gute Orientierung. Interessant ist, dass sie bei aller Unterschiedlichkeit zu ähnlichen Ergebnissen kommen:
- Der Democracy Index: Er wird vom Economist Intelligence Unit berechnet. Er aggregiert Faktoren wie Pluralismus/Wahlen, politische Partizipation, politische Kultur und zivile Freiheiten. Die Top Demokratien sind: Norwegen, Neuseeland, Finnland, Schweden, Island, Dänemark, Irland, Taiwan, Australien und die Schweiz. Die schlimmsten Diktaturen sind erwartungsgemäß Afghanistan, Myanmar und Nordkorea. Dort investiert keiner. Aber u.a. sind auch China, Saudi Arabien, Ägypten, Kasachstan, Russland und Jordanien auf der Liste der Autokratien vertreten. Und in dem einen oder anderen Land haben die meisten von uns bereits investiert. Wenn nicht direkt, dann doch über Fonds oder ETFs.
- Die Weltbank hält eine beeindruckende Fülle von Indizes vor, die den Stand von Freiheit, Stabilität, Korruption, Wettbewerbsfreundlichkeit, Cost of starting Businesses und viele mehr abbilden. Im Index für Voice und Accountability finden sich beispielsweise Norwegen, Finnland, Neuseeland, die Schweiz, die Niederlande, Dänemark, Luxemburg, Schweden, Kanada und Österreich ganz oben. Die Flops sind Nordkorea, Eritrea und Turkmenistan, aber auch China, Saudi Arabien, Ägypten, Vietnam, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate haben in Sachen politischer Governance eine miese Bilanz.
- Die NGO Freedom House berechnet jedes Jahr für alle Staaten Global Freedom Scores, die in ihrem Jahresbericht präsentiert werden. Auch hier schneiden Länder wie Norwegen, Finnland, Schweden, Neuseeland, Kanada, Dänemark, die Niederlande, aber auch Länder wie Uruguay, Taiwan, Chile und Zypern gut ab. Unfrei sind u.a. Saudi Arabien, China, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten und Vietnam.
- Einen Schwerpunkt auf wirtschaftliche Liberalisierung setzt der jährlich berechnete Index of Economic Freedom der konservativen Heritage Foundation. Hier finden sich Singapur, die Schweiz, Irland, und Neuseeland an der Spitze der freiheitlichen Länder. “Unterdrückt” sind dagegen Länder wie Nordkorea, China, Ägypten, “überwiegend unfrei” sind u.a. Russland, Saudi Arabien, aber auch Südafrika, Brasilien und Argentinien
- Eher auf individuelle Freiheiten zielt wiederum der Human Freedom Index des liberalen Cato Institute ab, der sehr breit gefächert ist und praktischerweise seine Datensätze zum freien Download anbietet. Zuletzt (2019) führte die Schweiz den Index an, gefolgt von Neuseeland, Dänemark, Estland, Irland, Kanada, Finnland und Australien. Wenig überraschend finden sich Syrien, Venezuela, Ägypten, Saudi Arabien, China, die Türkei und Vietnam weit unten im Freedom-Ranking.