Der Aktien Markt Crash 2022 ist in vollem Gange. Angesichts der düsteren politischen und makroökonomischen Aussichten erwarten die meisten Auguren weitere Verluste an den Risikomärkten. Warum dieser Meinungsgleichklang bedenklich ist und welche Schlüsse Anleger für sich ziehen können, um das Optimum aus den Märkten zu holen.
In der Politik zeigt sich gerade, dass Sicherheitsinteressen in Gefahr geraten können, wenn das Risikomanagement versagt. Risikomanagement in der Geopolitik war für uns bisher Neuland. Weil die Bundesregierung versäumt hatte, rechtzeitig einen Plan B für die Energieversorgung Deutschlands zu entwickeln, befinden wir uns in der misslichen Lage, in einen kalten Winter zu schlittern. Investoren neigen dazu, bei solchen Gelegenheiten darauf hinzuweisen, dass sie das Risikomanagement quasi mit der Muttermilch aufgenommen haben. Aber ist das so? Weil Risikomanagement als das Minimieren von Verlusten verstanden wird, laufen Anleger heute Gefahr, Wichtiges außer Acht zu lassen. Es gibt eine alternative Sicht auf Risiken, die wiederum eine Neubewertung für Aktien Chancen möglich machen, wie wir weiter unten zeigen wollen.
Investieren nach Szenarien
Das Investieren in Szenarien ist für viele Anleger selbstverständlich, weil jeder bestimmte Grundannahmen trifft, bevor er in Aktien oder Fonds investiert. In der Praxis gehen die meisten Anleger aber nicht den ganzen Weg. Wer einmal investiert hat, bleibt in der Regel bei seiner Linie. Dabei kann die Grenze zwischen Stetigkeit und Sturheit mitunter verschwimmen – gerade in Krisenzeiten. Das liegt daran, dass viele das eigene Szenario nicht als falsifizierbare These, sondern als Glaubenssatz verstehen. Framing-Effekt, Confirmation Bias, Herdentrieb, Availability Bias, Anchoring Bias usw.: Die Liste der kognitiven Biases ist lang – sie machen die wichtigste Kategorie der typischen Anlegerfehler aus.
Das Dumme dabei ist, dass sich viele auf tatsächliche oder vermeintliche Staranleger berufen. So gilt Warren Buffett als der klassische Value-Anleger, der geduldig an seinen Positionen festhält, bis der Markt erkannt hat, dass er eine Aktie fehlbewertet hat. Aber gerade Profis wie Buffett sind mitunter sehr flexibel. Sie räumen eine Bastion, wenn sie einen Irrtum in ihrer Annahme ausgemacht haben. So hat Buffett irgendwann gemerkt, dass es ein Fehler war, IBM Apple vorzuziehen. Er verabschiedete sich von Big Blue und investierte in großem Stil in Apple. Die Apple Aktie macht heute rund 40 Prozent seines Aktienportfolios aus. Gute Investoren haben immer einen Plan B, den sie aus dem Hut zaubern können, wenn ihre Investmentthese nicht aufgeht.
Dabei muss man zwischen zwei Ebenen unterscheiden: Die eine betrifft die grundsätzlichen Anlagebedingungen. Wer nicht reich geerbt hat, wird keine dicke Einmalanlage tätigen können, sondern Sparpläne bedienen; wer risikoavers ist, wird sich Stück für Stück in den Markt begeben, auch wenn es längst erwiesen ist, dass Einmalanlagen in den meisten Fällen bessere Aktien Chancen bringen als Sparpläne. Und wer an die Reversion to the Mean These glaubt, wird auch seine Notgroschen nutzen, um in fallende Messer zu greifen. Natürlich können sich auch diese grundlegenden Präferenzen ändern, etwa wenn ein Sparplanbediener eine Erbschaft macht und umgehend eine dicke Einmalanlage tätigt, aber Präferenzstrukturen sind ansonsten ziemlich statisch.
Wir wollen zur zweiten Ebene der Szenarien übergehen – zu solchen, die sich an die verändernden Marktbedingungen anpassen. Gemeint sind Strategien, die sich an den makrökonomischen Zyklus, das (makro-orientierte) Marktsentiment und die Situation der Unternehmen orientieren. Im Wesentlichen geht es bei solchen Szenarien darum, in konjunkturellen Abwärtsphasen defensive Aktien mit einem geringeren Beta höher zu gewichten als High Beta Aktien, die in Aufwärtsszenarien gewinnen. In der Regel kommen dabei konjunkturelle Frühindikatoren, Zinsen, Spreads, die Gewinnentwicklung von Unternehmen u.v.m zum Tragen.
Als Goldilocks unter den Bus geworfen wurde
Über weite Strecken der vergangenen 10 Jahre – bis ins Jahr 2021 hinein – stand das sogenannte Goldilocks-Szenario bei Anlegern im Vordergrund: Es leitet sich aus einem englischen Märchen ab, in dem sich ein Mädchen in einem Wald verirrt, zur verlassenen Hütte der drei Bären gelangt und dort einen gerade richtig warmen Brei isst um sich dann auf das gerade richtig weiche Bett zu legen. Übertragen auf die Investmentwelt spricht man von einer Goldlöckchen-Ökonomie, wenn das Wirtschaftswachstum robust, die Inflation niedrig und die Zinsen tief sind. Das ist der Stoff, aus dem die Hausse seit 2009 gemacht war. Insbesondere Growth Aktien profitieren von der Hausse , was dazu führte, dass Portfolios immer Growth-lastiger wurden. Der Growth-Crash seit Ende 2021 hat viele Anleger kalt erwischt – die schmerzhaften Drawdowns bei Highgrowth Aktien spiegeln sich in vielen Portfolios 1:1 als Kursverluste wider. Einbrüche von 40, 50 Prozent oder mehr sind keine Seltenheit.
Der Crash bei Risiko Assets ist in diesem Jahr stark ausgeprägt. Dazu beigetragen hat, dass nicht nur eine bestimmte Aktiengattung (Highgrowth) unter die Räder geriet. Der simultane Crash von Aktien und Anleihen hat zu einem weit verbreiteten Gefühl der Krise geführt. Es kommt selten vor, dass in einem Jahr Aktien und Anleihen annähernd gleich viel verlieren – Aktien und Euro-Renten haben jeweils zwischen 15 und 20 Prozent in diesem Jahr verloren. Entsprechend waren auch klassische Mischfonds kein Allheilmittel für Investoren. Die untere Tabelle zeigt das Ausmaß der Verluste an den Märkten. Nur Energieaktien und eher randständige Märkte (Brasilien, Türkei) haben bisher dem negativen Trend getrotzt, was für die meisten Anleger irrelevant ist, weil sie dort kaum vertreten sind. Indes hat das Fremdwährungs-Exposure Anlegern hierzulande sehr geholfen, wie der Kontrast zwischen der Euro-Performance und der Basiswährung in der unteren Tabelle zeigt.
Performance in Prozent und per 31.10.2022, Quelle: Morningstar
Der Aktien-Winter hat erst jetzt angefangen. Oder etwa nicht?
Weil die Nachrichten von der Unternehmensseite, der Politik (Ukraine, Taiwan, China Lockdowns u.v.m) negativ sind und weil die Notenbanken die geldpolitische Handbremse weiter angezogen halten werden, hat sich das Doom und Gloom Gefühl der Anleger im Jahresverlauf gesteigert. Fondsmanager halten ihre Cashquoten mit derzeit 6,3% so hoch wie seit 2001 nicht mehr. Und in den Medien erklären uns erfahrene Kommentatoren, dass selbst Kurserholungen nichts anderes sein können als tückische Bärenmarktrallys, denen wir tunlichst fernbleiben sollten.
Wirklich? So bestechend der Case für eine weitere Baisse sein mag, fürchte ich, dass Anleger drohen, die Fehler der Growth Anleger des Jahres 2021 spiegelbildlich zu wiederholen. Sie steigen aus Aktien aus und parken ihr Geld in Cash – ähnlich wie die derzeit risikoaversen Fondsmanager. Sie übersehen dabei, dass die Volatilität auch ihr Freund sein kann und dass das größte Risiko für Anleger nicht aus den Schwankungen der Märkte besteht, sondern darin liegt, seine Investment-Ziele nicht zu erreichen.
Wer noch lange Zeit investieren muss, braucht sich keine Sorgen zu machen, wenn die Märkte auf dem Weg zum Ziel nachgeben. Vor diesem Hintergrund erscheint es weniger ratsam, alles auf Cash zu setzen – zumal Aktien bereits 30, 40 Prozent oder mehr verloren haben und ein Ausstieg jetzt eher nach planlosem Aktionismus riecht. Crash-Angst ist selten ein guter Ratgeber, es gilt, die Aktien Chancen wahrzunehmen.
Wenn alle Auguren die gleiche Meinung haben, ist es nicht unwahrscheinlich, dass es doch anders kommt als gedacht. Ruchir Sharma, Chair des Rockefeller International, hat in einem Gastbeitrag für die Financial Times die Konsensfalle gut auf den Punkt gebracht:
“Ökonomen neigen dazu, in kleinen Schritten zu denken und große Wendungen in der Geschichte zu übersehen, was erklärt, warum ihre Konsensmeinung keine einzige US-Rezession seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1970 vorhergesagt hatte – bis jetzt.”
Sharma gibt zu bedenken, dass es zwar verlockend ist, das über-transparente Narrativ der Zentralbanker für bare Münze zu nehmen. Aber gerade dieser Konsens sollte Investoren dazu bringen, einen Plan B zu entwickeln.
Es gibt jede Menge Indikatoren, die gegen einen nachhaltigen Aktien-Winter sprechen. Das fängt an mit klassischen Sentiment-Indikatoren wie die bereits oben erwähnten Cashquoten von Fondsmanagern, die auf eine hohe Risikoaversion schließen lassen. Das bedeutet, dass sie bei einem Einstieg die Kurse in großem Stil bewegen werden. Andere Indikatoren wie der VIX oder Put-Call-Ratios signalisieren kein besonders großes Risikobewusstsein. Bereits seit Monaten ist der Kontrast zwischen risikoaversen Bond-Anlegern und eher weniger besorgten Aktienanlegern erstaunlich. Die Sentiment-Indikatoren sprechen also keine klare Sprache.
Auch die Makro-Indikatoren erlauben mehr als nur eine Deutung: Die Lage der Verbraucher hat sich in den USA zwar eingetrübt, aber die Konsumentenausgaben halten sich angesichts der hohen Inflation stabil und damit besser als erwartet. Das spiegelt genau das wider, was die US-Notenbank erreichen möchte: weniger Druck im Kessel, aber kein Einbruch der Konjunktur. Die gerade veröffentlichten OECD Frühindikatoren zeigen auch für Japan ein stabiles Wachstum; in Brasilien und China deuteten sie immerhin auf eine Stabilisierung hin.
Für Europa sieht das Bild trüber aus. Der russische Angriffskrieg wird bei uns deutlich stärkere Spuren in der konjunkturellen Entwicklung hinterlassen als in anderen Regionen. Ein schwächeres Wachstum wird allerdings auch dazu beitragen, die Inflation zu dämpfen. Die EZB, die sich derzeit falkenhaft gibt, dürfte binnen kurzer Zeit umschwenken, sollte die Inflation einen Rückwärtsgang einschalten. Das ist übrigens nicht so unwahrscheinlich: Neben der Eintrübung der Wirtschaft entspannen sich die Lieferkettenprobleme, wie der Global Supply Pressure Index der Citi Bank anzeigt, sodass die Angebotsseite als Inflationstreiber absehbar ausfallen wird. Dass der stark beachtete Baltic Dry Sea Index in diesem Jahr um über 50 Prozent eingebrochen ist, unterstützt das Signal, dass den Arterien der Weltwirtschaft kein Infarkt mehr droht.
Aktien Chancen: Mehr Beta für das Portfolio?
Es gibt also Indikatoren für ein alternatives Narrativ – wenn man nur nach ihnen sucht. Wir wissen natürlich nicht, was der Auslöser für eine Aktienerholung sein wird, aber das sie kommen wird, ist klar. Und weil an der Börse nicht zum Einstieg geklingelt wird, sollten Anleger einen Plan B entwerfen – frei nach dem Klassizisten John Pentland Mahaffy: Die Börse ist der Ort, an dem das Unvermeidliche nie passiert und sich das Unerwartete ständig ereignet (er bezog diesen Spruch auf Irland).
Es gilt also das Motto: Faites vos jeux – und Spielwiesen gibt es viele und nicht nur auf der Aktienseite. Bei Renditen von 4,7 Prozent sind zweijährige US-Staatsanleihen angesichts der sinkenden Inflationserwartungen gar keine schlechte Idee. Fallen die Inflationsraten in den USA wie erwartet in drei Jahren auf unter 3,0 Prozent, dann bieten auch zehnjährige Staatsanleihen mit Renditen von rund 4,2 Prozent eine positive Realverzinsung. US-Hochzinsanleihen bringen es auf Renditen von über acht Prozent, was eine unrealistisch hohe Ausfallrate unterstellt. Kein Währungsrisiko gibt es bei Euro-Anleihen – die allerdings deutlich niedriger rentieren. Zehnjährige deutsche Bunds bringen rund 2,3 Prozent, was es mit der Realrendite schwierig macht, aber sie bringen immerhin eine positive Nominalverzinsung.
Kommen wir zu den wirklichen Renditebringern, zu den Aktien Chancen. Wer könnte besonders stark zulegen, sollte es zu einer Erholung kommen? Das wollen wir anhand von US Aktien durchspielen. Wir haben uns die Marktsensitivität der Sektoren im S&P 500 vorgenommen. Ihr habt bereits die Kennzahl Beta kennengelernt. Es lässt sich unterscheiden zwischen der Marktsensitivät einer Aktie bzw eines Sektors in verschiedenen Marktphasen. Das sogenannte Bear Beta zeigt, wie stark ein Asset relativ zum Referenzmarkt nach unten mitgeht; das Bull Beta spiegelt die Sensitivität eines Assets in einem Aufwärtsmarkt wider.