Die Pleite des chinesischen Immobilienriesen Evergrande hat die Probleme der chinesischen Immobilienbranche schlaglichtartig der Welt vor Augen geführt. Wir analysieren, wie es mit der chinesischen Immobilienwirtschaft, vor allem im Hinblick auf Wirtschaftswachstum und Konsumentenverhalten, weitergeht.
Letzte Woche waren wir auf das zuletzt enttäuschende Wachstum in China eingegangen und hatten argumentiert, dass China künftig von staatlichen Infrastrukturprojekten die Finger lassen und stattdessen den chinesischen Konsumenten stimulieren sollte. Wie geeignet wäre dazu der Immobilienmarkt?
China Immobilien: Ein historischer Abriss
Die chinesische Regierung erlaubte 1978 das Privateigentum von Immobilien. In den 1990er Jahren beschleunigte dann eine ganze Reihe von Reformen das Wachstum des Sektors. Ab 1998 wurden die regionalen Behörden angewiesen, Wohnraum nicht mehr wie bis dato üblich einfach zu verteilen, sondern über Verkäufe zu monetarisieren. Über 10.000 private Immobiliengesellschaften entstanden.
Eine entscheidende Bedeutung kommt dabei der Urbanisierung der Gesellschaft zu. Die Transformation von Agrar- zur Industriegesellschaft führte zu einer beispiellosen Migration. Während 1980 gerade einmal 20 Prozent der Chinesen in Städten wohnten, sind es heute zwei Drittel.
Dazu kam ein positives Bevölkerungswachstum. Nach einer wahren Bevölkerungsexplosion der sechziger und siebziger wuchs die Bevölkerung in den achtziger und frühen neunziger Jahren um über 1 Prozent per annum, bis 2017 noch mit über 0,5 Prozent.
Die starke Nachfrage führte zu einer Reihe von Boom-Bustzyklen. Die Regierung griff immer wieder glättend ein und in den letzten Jahren hörte man wiederholt das Mantra „Immobilien sind zum Wohnen und nicht zum spekulieren da“. Dennoch nahmen Immobilien-Direktinvestitionen (ohne Immobilienfonds und andere Vehikel) im Zeitraum von 1995 bis 2021 jedes Jahr an Bedeutung zu. Der Anteil am BIP erreichte in der letzten Dekade ein Plateau bei rund 8 Prozent des BIP. An jeder verkauften Immobilie hängt aber ein Rattenschwanz an Zusatzdienstleistungen.
Rechnet man den Bausektor und die Nachfrage nach Immobiliendienstleistungen, Rohstoffen, Finanzierungen sowie Einrichtungs- und Investitionsgütern mit ein, erhöht sich die Bedeutung der Branche auf 24 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Damit ist der Immobiliensektor im Wirtschafts-Mix Chinas deutlicher gewichtiger als in der Emerging Market Peer Group oder den westlichen Industrienationen.
Der Bedarf nach Wohnraum ist heutzutage großteils abgedeckt. Mit 41,8 Quadratmetern verfügbaren Wohnfläche pro Kopf hat China im Jahre 2020 das Niveau der entwickelten Industrienationen erreicht. Auch die Landflucht ist vorbei, Chinas Urbanisierung ist ebenfalls weitestgehend abgeschlossen, wenngleich es noch etwas Luft zum Niveau westlicher Industrieländer (rund 80 Prozent) gibt. Es werden zukünftig also deutlich weniger potentielle Käufer in die Städte gespült.
Eine entscheidende Rolle für Konsum kommt aber Immobilien als Investition zu: Die Chinesen investieren bis zu 80 Prozent ihrer Ersparnisse in vermeintliches Betongold.
Die Party ist zu Ende
Zukünftig bekommt die chinesische Immobilienwirtschaft ein strukturelles Problem: Die Bevölkerungspyramide ist aufgrund der von 1980 bis 2006 geltenden 1-Kind-Politik gleich doppelt verstümmelt. Die geburtenstarken Jahrgänge sind bereits über 50 Jahre alt, die fruchtbaren Jahrgänge im Alter bis 30 Jahren sind weit dünner gesät. Außerdem sind Frauen aufgrund der bis heute andauernden tragischen Präferenz für männlichen Nachwuchs in den Kohorten der 1-Kind-Politik rund 10 Prozent seltener vertreten.
Chinas Bevölkerung wächst nicht mehr und wird zukünftig schrumpfen. Nach dem Höchststand von 1,426 Milliarden Menschen Ende 2022 verringert sich die Einwohnerzahl dieses Jahr zum ersten Mal. Laut Schätzungen der UN soll die Population China bis 2050 um 10 Prozent abschmelzen, bis Ende des Jahrhunderts im mittleren Szenario sogar fast halbieren. Noch dramatischer ist die Situation hinsichtlich der Erwerbsbevölkerung; sie soll von heute knapp 900 Millionen bis 2050 auf 700 und 2100 auf 350 Millionen Menschen abschmelzen.
Wie man es dreht und wendet: Das Wachstum des Bedarfs an Wohnraum und damit die Bedeutung der Immobilienwirtschaft für das Wirtschaftswachstum hat Ihren Zenit überschritten. Die Branche wird künftig kleinere Brötchen backen müssen.
Das sieht man dem Preisniveau nach langjährigen Preissteigerungen bisher nicht an. Der Quadratmeterpreis hatte sich landesweit im Zeitraum von 1998 bis 2001 auf 10.000 Yuan verfünffacht. Laut Financial Times lag 2022 das Verhältnis von Preisen zu Mieten in den Großstädten Shenzhen, Shanghai, Beijing und Guangzhou bei über 500, in anderen Worten: die Mietrendite liegt unter 0,2 Prozent. Laut dem Portal Numeo liegt die Mietrendite landesweit aktuell bei immer noch bei mageren 1,6 Prozent. Wer sich fragt, wie das bei Bauzinsen von 4 Prozent überhaupt sein kann: Offensichtlich kommt die Finanzierung bei frisch verheirateten Immobilienkäufern oft zinslos von den Eltern. Allerdings heiraten Chinesen immer seltener, es besteht zukünftig also Bedarf nach mehr, dafür aber kleineren Wohnungen. In der Vergangenheit waren Oma und Opa oft als Caretaker für den Nachwuchs mit eingezogen und Wohnungen dementsprechend groß geschnitten. In jedem Fall ist die Baufinanzierung seit Mitte 2022 komplett zum Erliegen gekommen, die nachfolgende Grafik vermittelt die Dramatik der Entwicklung gut.
Eine die Preise stützende Rolle dürfte aber das verminderte Angebot spielen, das auf die äußerst prekäre Situation der Projektentwickler im Lande zurückzuführen ist. Im August 2020 hatte die Regierung mit Ihrer Politik der „drei roten Linien“ eine Lawine ins Rollen gebracht. Anlass waren die vermeintlichen Auswirkungen der hohen Immobilienpreise auf die zunehmende finanzielle Ungleichheit und damit die Geburtenrate der Mittelklasse. Die drei roten Linien formulierten durchaus vernünftige Richtlinien für die Stabilität der Unternehmen: 1. Schulden dürfen 70 Prozent der Assets nicht überschreiten, 2. Nettoverschuldung darf nicht größer als das Eigenkapital sein und 3. Liquidität darf. die kurzfristige Verschuldung nicht unterschreiten.
Das Problem: Es war zu spät. Evergrande, die bis 2020 größte Baugesellschaft des Landes mit 200.000 Mitarbeitern und konzerneigenem EV-Hersteller (Hengchi), hatte da schon in einer beispiellosen Wachstumsorgie 300 Milliarden an Schulden angehäuft. Beispiel für den Größenwahn des Firmengründers Hui Ka Yan: 185 Millionen Dollar wurden für ein Fußballteam ausgegeben, dazu passend sollte das größte Fußballstadion der Welt in Form einer Lotusblume gebaut werden.
Die Pleite schlug ein wie eine Bombe. Die Polizei muss Firmengebäude vor aufgebrachten Investoren, Kunden aber auch vor den eigenen Mitarbeitern schützen, die ihr investiertes Geld zurück wollen. Die Evergrande-Aktie stürzte ins Bodenlose. Evergrande war jedoch scheinbar too big to fail, Analysten ziehen zur Illustration möglicher Konsequenzen die Lehman-Pleite herbei: Die Notenbank stützte mit 80 Milliarden Dollar Liquidität. Die Restrukturierung der Verbindlichkeiten läuft bis dato ohne entscheidende Fortschritte. Im Baugeschäft ist Evergrande zum laufenden Zombie geworden, das Geschäft im letzten Jahr brach um rund 90 Prozent ein. Die Investor Relations Website steckt im Jahr 2021 fest.
Chinas größte Entwicklungsgesellschaft nach Verkäufen in den letzten beiden Jahren, Country Garden, kam mit einem blauen Auge davon. Die in Hongkong notierte Aktie steht derzeit bei rund zehn Hongkong-Dollar (HKD), die Höchstkurse im Jahr 2021 lagen bei knapp 80 HKD. Im Jahr 2022 berichtete die Gesellschaft einen Verlust von 1,1 Milliarden $, dabei soll das Kerngeschäft sogar noch profitabel gewesen sein.
Die meisten Projektentwickler hat es schwerer getroffen. Rund die Hälfte der Gesellschaften geriet in Zahlungsverzug. Alleine im Jahre 2022 fielen 150 Milliarden Yuan onshore Bonds und 30 Milliarden $ Bonds aus. Aktuell stehen laut Bloomberg Kredite in Höhe von 12 Prozent des GDP auf der Kippe.
Die Misere bei den Gesellschaften schlug sich aber am Markt für Land nicht nieder. Die Städte verknappten das Angebot und schafften ein vermeintliches Wunder: Die Preise für Land stiegen letztes Jahr um 6 Prozent. Käufer waren fast ausschließlich staatliche Entwicklungsgesellschaften. Für die konzertierte Preismanipulation gibt es einen guten Grund: Fallende Landpreise würden zu noch mehr Kreditausfällen führen.
Bei den Wohnimmobilien gab es wohl eine moderate Korrektur, aber die Verkäufer zeigten sich hinsichtlich der Senkung der Angebotspreise stur, ein Phänomen, das wir global beobachten können. Die Immobilienpreise gaben folglich im letzten Jahr nur leicht nach und konnten sich dieses Jahr sogar leichter erholen. Allerdings sind die Volumen eingebrochen.
Der Staat bemüht sich um Schadensbegrenzung. Wichtigste Maßnahme, um die Exzesse der Vergangenheit zu vermeiden: Anzahlungen dürfen zukünftig nur noch projektbezogen verwendet werden. Bisher konnte das verlorene Vertrauen damit aber nicht zurückgewonnen werden.
Laut Bloomberg sollen Maßnahmen wie die Einbringung eines geringeren Eigenkapitals beim Kauf, die Aufhebung von Kaufbeschränkungen und sogar die Senkung der Gebühren von Immobilienmaklern enthalten sein. Vielversprechend klingt das nicht.
Fakt ist jedenfalls, dass China aktuell genug Wohnimmobilien hat und diese zudem nicht gerade günstig sind. Soweit stimmen wir mit den Analysten von Goldman Sachs überein: Die chinesische Regierung hat, was die Stimulierung des Immobilienmarktes betrifft, keine guten Handlungsoptionen. Die Projektentwickler müssen gesund geschrumpft und Ihre Schulden abgewickelt werden. Die Branche dürfte zukünftig von Staatsunternehmen dominiert werden.
Fazit
Die Immobilienbranche als Lokomotive der Wirtschaft hat ausgedient. Es gibt zwar durchaus sinnvolle Maßnahmen, wie die energetische Sanierung von Immobilien, energetisch effiziente Haushaltsgeräte oder der Bau singlegerechter Wohnungen, die der Staat fördern könnte, diese sind aber nur ein Schatten des Baubooms der letzten 25 Jahre. Die chinesische Regierung muss also das Wirtschaftsmodell umstellen.
Das geht unseres Erachtens nach nur über die Binnennachfrage. Die Regierung wird also nach anderen Wegen suchen müssen, um den Konsumenten hinter dem Ofen hervorzuholen, und damit das Wachstum anzufeuern. Die Verbesserung des sozialen Sicherungsnetzes und die Reduzierung der Jugendarbeitslosigkeit wären mit Sicherheit hilfreich, um den Konsumenten zu stimulieren. Das gleiche gilt für den Abbau von Bürokratie und die Stärkung des Vertrauens in die Institutionen. Die letzten beiden Maßnahmen dürften aber aktuell ein frommer Wunsch bleiben.
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