Kommt der Carry Trade zurück? Die Attraktivität der Schwellenländer basiert auch auf den Zinsen, mit denen Anleger aus den Industrieländern gelockt werden. Im Gegensatz zu Fed, EZB und Co. straffen die Notenbanken in den Emerging Markets bereits jetzt die geldpolitischen Zügel. Ist das das Signal für eine Wette auf auskömmliche Zinsen?
Auch wer noch nie vom Begriff Carry Trade gehört hat, wird ihn mit einiger Sicherheit zumindest schon einmal erwogen haben. Anleger in Deutschland, die sich bereits seit einer Dekade mit Olafs Sparbuch gestraft sehen, suchen nach Anlagechancen, um auskömmliche Zinsen zu vereinnahmen.
Ein potenzielles Ziel bieten dabei die Emerging Markets. Wir kennen die Story noch von vor der heutigen Niedrigzinsphase: Schwellenländer bieten Wachstumsphantasie. Nicht nur auf Aktienseite, sondern, wegen der höheren Zinsen, auch bei Währungen und Anleihen.
Tragen wir also einen Teil unseres Erspartes in die Schwellenländer, dann setzen wir darauf, dass unser niedrig verzinstes Euro-Cash üppige Renditen in Real, Renminbi, Rupie oder Lira abwirft. Vorhang auf zum Carry Trade! Auch wenn der „Carry“ ursprünglich eine Zins- bzw. Währungswette war, lässt sich das Phänomen auf alle Anlageklassen ausdehnen: Die Hoffnung auf Rendite treibt uns auch in die Aktien- und Rentenmärkte der Schwellenländer.
So weit die Hoffnung. Und was ist mit dem Risiko? Das ist ziemlich trivial. Die Attraktivität des Carry Trades nimmt in dem Maße ab, in dem die Zins-/Renditedifferenz zwischen den beiden Räumen abnimmt. Fällt der Kurs der Zielwährung, gewinnt die Heimatwährung an Attraktivität – bis im Extremfall Olafs Sparbuch wieder King ist. Die Kehrseite der hohen Zinsen in den Schwellenländern sind die in der Regel vergleichsweise hohen Teuerungsraten. Es lohnt sich also, die realen Zinsen im Blick zu behalten und sich nicht von den nominalen Zinsen blenden zu lassen.
Die Post-Covid-Welt: Die Suche nach einem neuen Gleichgewicht
Wie sieht die Welt heute aus Sicht des potenziellen Carry-Trader aus Europa und den USA aus? Wir befinden uns in einer höchst spannenden Situation. Die Industrieländer haben die Covid-Krise weitgehend weggesteckt (auch wenn die Arbeitsmärkte, vor allem in den USA, noch nicht das Vor-Corona-Niveau erreicht haben). Dennoch sitzen die Notenbanken in der EU und in den USA noch immer auf ihren Händen: Fed und EZB haben bisher ungeachtet der Wirtschaftserholung noch nicht einmal das Tempo der Anleihekäufe gedrosselt, geschweige denn die Zinsen erhöht. Angesichts der steigenden Inflation scharren viele Anleger – bisher vergeblich – ungeduldig mit den Füßen.
Ganz anders sieht die Lage in den Schwellenländern aus. Sie reagieren viel schneller auf die Signale von der Inflationsfront. Erst Mitte diesen Monats hat die polnische Zentralbank, die nicht im Ruf steht, dem Lager der geldpolitischen Falken anzugehören, den Leitzins erstmals seit neun Jahren um 40 Basispunkte auf jetzt 0,5 Prozent erhöht. Neuseeland, zwar kein Schwellenland, wohl aber ein klassisches Carry-Ziel, hat auch in dieser Woche erstmals seit sieben Jahren die Zinsen erhöht.
Und es handelt sich nicht um Einzelfälle. Allerorts steigen in den Emerging Markets die Zinsen. Laut einer Prognose der US-Investmentbank JPMorgan von Ende Juli dürften in den nächsten zwölf Monaten die Notenbanken in 18 Schwellenländer die Zinsen in einem Umfang von 73 Zinsschritten a 25 Basispunkten erhöhen. In den kommenden zwei Jahren sollen die Zinsen dort über 100-mal erhöht werden. Besonders aktiv werden Brasilien, Kolumbien, Chile, Mexiko, Russland, Südafrika, Ungarn und Indien sein.
Wessen Füllhorn ist das größte?
Investoren auf dem Sprung: Mittelflüsse in Fonds
Es stellt sich nun die Frage, wie Anleger auf diese Aussichten reagieren sollen. Einige Beobachter sehen aktuell die Märkte in einem „Sweet Spot“. Ungeachtet der im Vergleich zum Vorjahr gestiegenen Inflation hat die US-Notenbank erklärt, nicht kurzfristig die Zinsen erhöhen zu wollen. Auch wenn sich die Fed vom Ausmaß der Inflationsentwicklung überrascht zeigt, so geht sie nach wie vor davon aus, dass der Anstieg der Teuerung von 5,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr „transitorisch“ sei, also auf Sondereffekten beruht.
Auch wenn inzwischen erwartet wird, dass die Fed bereits im kommenden Jahr und nicht erst 2023 den Leitzins erhöhen wird, könnte das ein Signal für eine Rally für Schwellenländer-Währungen sein. Der Leitzins in Südafrika liegt aktuell bei 3,5 Prozent, in Brasilien bei 4,25 Prozent, in Russland bei 6,5 Prozent und in der Türkei sogar bei 19 Prozent. Was machen Anleger aus diesen Vorgaben?
Bisher nicht allzu viel: Die Kapitalflüsse in Schwellenländerfonds deuten auf eine Normalisierung der Lage nach dem Covid-Schock hin, aber nicht auf eine Euphorie der Investoren aus dem Westen. Bis Ende August haben Anleger weltweit in diesem Jahr noch nicht in großem Stil in Schwellenländerfonds investiert, wie die untere Grafik zeigt, welche die monatlichen Flows der letzten drei Jahre in Fonds aus 20 Schwellenländer-Kategorien zeigt.
Go with the Flow? Das Kaufverhalten von Anlegern bei Schwellenländerfonds
Wie die obere Tabelle andeutet, litten Schwellenländer-Fonds im Frühjahr 2020 unter einem stark ausgeprägten Kapitalentzug. Dank der Stabilisierungsmaßnahmen der Geld- und Fiskalpolitik weltweit sowie der sich abzeichnenden Entwicklung von Impfstoffen gegen Covid-19 kehrte der Optimismus der Anleger ab Ende 2020 so weit zurück, dass die Nettoflüsse in Schwellenländer-Fonds wieder in der Range der Vorjahre lagen.
Steigt man etwas tiefer in die Materie ein, fällt auf, dass Anleger in diesem Jahr selektiv vorgehen. Fonds für asiatische Bonds, globale Schwellenländer-Aktien und Aktien der Region Greater China waren in den ersten acht Monaten stark nachgefragt. Geringer, aber deutlich positiv waren auch die Zuflüsse in Fonds für Lateinamerika-Anleihen. Indes haben Anleger Geld aus Fonds für Lateinamerika-Aktien abgezogen. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass sich Anleger im „Business as usual“ – Modus befinden. Nach dem Covid-Schock suchen Investoren weltweit wieder die Chancen an den Risiko-Märkten – auch bei Schwellenländern, aber das auf nicht bemerkenswerte Weise.
Sind die Carry Trade Ampeln wirklich auf grün?
Bevor Anleger jetzt nach der ISIN für ihren Lieblings-Schwellenländer-ETF suchen, gilt es, die Rahmenbedingungen in den Schwellenländern abzuklopfen. Wie bereits oben erwähnt, ist es wichtig, dass Anleger die realen Zinsen im Blick behalten. Um beim Beispiel Türkei zu bleiben: Hier steht den sensationellen Zinsen von 19 Prozent eine nicht weniger sensationelle Inflationsrate von 17 Prozent gegenüber. Macht einen Realzins von gerade einmal zwei Prozent!
Das wirft ein Schlaglicht auf die Schwierigkeiten, mit denen viele Schwellenländer zu kämpfen haben. Im Gegensatz zu den Industrienationen hat sich die Wirtschaftsaktivität in den meisten Ländern der Dritten Welt nach dem Covid-Einbruch noch längst nicht erholt. Die Zinsen steigen also in einer Zeit, in der die konjunkturelle Erholung noch eine zarte Pflanze ist. Zumal die Quote der Covid-19-Impfungen in den Schwellenländern vergleichsweise niedrig ist, sodass die Gefahr erneuter „Lockdowns“ für viele Länder real ist, wie zuletzt die Maßnahmen in Vietnam gezeigt haben. Zum Vergleich: Die US-Notenbank lässt sich dagegen nicht zuletzt deshalb Zeit mit den ersten Zinsschritten, weil sie auch die Entwicklung am Arbeitsmarkt in den USA im Blick hat.
Schwellenländer hinken den Industrieländern hinterher
Um zu verstehen, warum sich die Schwellenländer bereits mitten im Zinserhöhungszyklus ungeachtet eher wackeliger Fundamentaldaten befinden, müssen wir etwas weiter ausholen. Es geht den Schwellenländer-Zentralbanken nicht nur um die Bekämpfung der Inflation. Mindestens ebenso wichtig ist es, eine Kapitalflucht aus dem Inland zu verhindern und ausländische Investitionen anzuziehen. Zugleich dürfen die Entwicklungsländer nicht durch übermäßige Zinserhöhungen die eigene Konjunktur abwürgen. Die Zinspolitik ist also ein fortlaufender Drahtseilakt für die Notenbanker in den Entwicklungsländern.
Die Ampeln für den Carry-Trade sind so lange auf grün, wie sich diese mitunter prekäre Balance in einem Gleichgewicht befindet. Die Zinspolitik der Notenbanken in den Industrieländern, vor allem in den USA, ist für die Schwellenländer so wichtig, weil sie das Zünglein an der Waage sein kann. Die Jackson Hole Tagung der Notenbanken im September sorgte für Entspannung. Die stark gestiegene Inflation über den Sommer wurde von der Fed nicht zum Anlass genommen, die Straffung der Geldpolitik vorzuziehen.
In den ersten sechs Monaten dieses Jahres waren die langfristigen Renditen von Anleihen in den Industrieländern nicht zuletzt deshalb gestiegen, weil die Inflationserwartungen deutlich zugelegt hatten und Anleger eine frühzeitige Straffung der US-Geldpolitik befürchteten. Jerome Powell konnte also mit seiner Rede in Jackson Hole Anleger beruhigen. Damit folgte er der Erkenntnis, dass nicht ein Anstieg der US-Zinsen per se die Stabilität der Schwellenländer gefährde, sondern es darauf ankomme, ob die Fed aufgrund von Inflationssorgen eine Zinswende einleite.
Es spricht viel dafür, dass die US-Notenbank aus den Pannen der Vergangenheit gelernt hat. Im Jahr 2013 hatte der seinerzeitige Notenbank-Chef Ben Bernanke eher beiläufig vor dem US-Kongress erklärt, das Tempo der Anleihekäufe drosseln zu wollen. Das führte zu einem massiven Ausverkauf von Assets der Emerging Markets. Seitdem hat sich der Begriff „Taper Tantrum“ im geldpolitischen Jargon etabliert. Man hat dazugelernt: Um eine Destabilisierung der Schwellenländer zu vermeiden, ist die Kommunikation der US-Notenbank behutsamer geworden.
Wer fällt um? Die fragilen Kandidaten vermeiden
Wichtig ist auch der zweite Teil der Gleichung. Es sind nicht nur die Notenbanken in den Industrieländern, die eine Krise in den Schwellenländern auslösen können, sondern auch die Bedingungen vor Ort. Hierfür lohnt sich ein Blick auf die bereits erwähnte Krise des Jahres 2013. Besonders vom “Taper Tantrum” betroffen waren die Länder mit einer ausgeprägt negativen Leistungsbilanz. Brasilien, Indien, Indonesien, Südafrika und die Türkei wurden seinerzeit als “fragile Fünf” (Copyright: Morgan Stanley) bezeichnet. Sie waren von den Kapitalströmen aus den Industrieländern nach der großen Finanzkrise abhängig geworden und infolge der Kombination aus hoher Inflation bei relativ schwachem Wirtschaftswachstum von Investitionen abhängig bzw. anfällig für externe Schocks.
Heute haben sich zwar die Namen der “Fragilen” verändert, aber nicht die grundsätzlichen Probleme, unter denen viele Entwicklungsländer leiden. Bis zur Covid-19-Krise hatte sich die Situation in vielen Ländern wirtschaftlich und finanziell stabilisiert, was heute infolge der stark gestiegenen Verschuldung der meisten Entwicklungsländer relativiert werden muss. Zumal nicht klar ist, ob nicht weitere fiskalpolitische Maßnahmen gegen die Folgen einer erneuten Covid-Krise in Ländern mit niedrigen Impfquoten nötig sind. Das strapaziert die ohnehin nicht prall gefüllten Taschen der Finanzminister.
Die niederländische Rabobank hat in einer lesenswerten Untersuchung einige Risikofaktoren zusammengetragen und zu einem Ranking der vulnerabelsten Schwellenländer verdichtet. Die untere Rangliste setzt sich aus fünf Indikatoren zusammen, unter anderem die Verschuldungsquote, dem Anteil an Fremdwährungskrediten, der Leistungsbilanz und den Kosten des Schuldendienstes. Demnach sind Argentinien, Ungarn, Chile, Kolumbien und die Türkei besonders gefährdet. Stabil seien dagegen China, Russland, Thailand, Südkorea, Indien und Mexiko, hat die Rabobank ermittelt.
Die “neuen Vulnerablen“
Fazit: Wo der Carry Trade zum Strohfeuer zu werden droht
Die unverändert niedrigen Zinsen in den meisten Industrieländern lassen die Kapitalmärkte der Schwellenländer für viele Anleger attraktiv erscheinen. Zumal die Zinsen dort steigen und die Inflation hierzulande mehrjährige Hochs erreicht hat. Die meisten Emerging Markets haben die Teuerungsraten (noch) unter Kontrolle, sodass sie auch mit attraktiven Realzinsen locken können. Zudem sind die Kapitalmärkte in den Entwicklungsländern reifer geworden, sodass die Bedingungen für Finanzinvestoren besser sind als jemals zuvor. Ein Bonbon: Die steigenden Zuflüsse aus dem Ausland dürften die Währungen der begünstigten Länder tendenziell aufwerten, was Finanzinvestoren zusätzlich zugute käme.
Allerdings lohnt es sich für Anleger, die Wackelkandidaten zu identifizieren. Das ist deshalb wichtig, weil die Bedingungen vor Ort entscheiden, ob die Straffung der geldpolitischen Zügel in den USA im kommenden Jahr eine destabilisierende Wirkung entfalten wird oder nicht. Die Investitionsbedingungen in den Schwellenländern sind sehr unterschiedlich. Nicht zuletzt von der Auswahl des Investment-Ziels wird die Antwort auf die Frage abhängen, ob Carry Trades mehr sein werden als Eintagsfliegen.
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