Europa hat sich in den letzten 20 Jahren krank gespart. Der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi hat sich mit einem aufsehenerregenden Strategie-Papier zu Wort gemeldet. Im Mittelpunkt des Draghi-Plans stehen Vorschläge zu Infrastruktur-Investitionen – führen Sie Europa aus der Krise?
Dass ohne Infrastruktur kein Wirtschaftswachstum möglich ist, gilt als Binsenweisheit, und Europa lebt es auch gerade vor. Der alte Kontinent ist seit der Finanzkrise beim Wachstum weit hinter den USA zurückgefallen. In den vergangenen 20 Jahren haben die USA Europa regelrecht deklassiert. Seit 2010 hat sich der Abstand in der Bruttowertschöpfung zwischen der EU und den USA vergrößert. Im Jahr 2023 war das BIP der EU zu Preisen von 2015 um etwa 30 Prozent niedriger als das der USA, während dieser Abstand im Jahr 2002 noch bei etwa 17 Prozent lag. Das real verfügbare Einkommen ist in den USA seit 2000 fast doppelt so schnell gewachsen wie in der EU. Ein wichtiger Grund war die Vernachlässigung der Entwicklung einer digitalen Infrastruktur in Europa.
Quelle: Draghi-Report The Future of European Competitiveness
Europa hat die erste Welle der digitalen Revolution, die vom Internet und der Integration digitaler Technologien in den USA angeführt wurde, weitgehend verpasst. Diese Revolution war der Treiber des Wachstums in den USA, Europa hatte hier das Nachsehen.
Zudem hinkt Europa bei der Entwicklung und Kommerzialisierung neuer digitaler Technologien wie KI, Cloud-Computing und Quantencomputing hinterher. So dominieren beispielsweise US-Unternehmen bei Foundation KI-Modellen, während der europäische Technologiesektor schwach und unterentwickelt bleibt. Rund 70 Prozent des Pro-Kopf-BIP-Gefälles zwischen den USA und der EU sind auf die mangelnde Adaption der digitalen Infrastruktur in Europa zurückzuführen.
Draghi-Plan: “Super-Mario” bringt die Schwäche Europas auf den Punkt
Im vergangenen Monat hat der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi im Auftrag der EU-Kommission einen Bericht vorgelegt, der Wege aus der europäischen Malaise aufzeigt. Den Schwerpunkt legt Draghi auf die Energie-Infrastruktur, die untrennbar mit der Entwicklung der digitalen Infrastruktur verbunden ist. Unsere Analyse des Draghi-Plans: Was schlägt der ehemalige italienische Ministerpräsidenten und legendäre Ex-EZB-Chef vor?
Zunächst folgt eine schonungslose Diagnose. Laut dem Draghi-Plan hinkt Europa bei fortschrittlichen Technologien wie KI, Quantencomputing und Cloud Computing deutlich hinterher. So wurden beispielsweise 70 Prozent der grundlegenden KI-Modelle in den USA entwickelt, und nur 4 der 50 weltweit führenden Technologieunternehmen sind europäische Unternehmen. Europäische Unternehmen investieren im Vergleich zu ihren US-amerikanischen Pendants deutlich weniger in Forschung und Innovation, insbesondere im Technologiesektor. Im Jahr 2021 gaben EU-Unternehmen 270 Milliarden Euro weniger für Forschung und Entwicklung aus als US-Unternehmen.
Das regulatorische Umfeld in der EU ist häufig restriktiver, hauptsächlich für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) und die digitale Industrie. Viele europäische Unternehmen nennen regulatorische Hindernisse und Verwaltungsaufwand als große Herausforderungen.
Europa hat eine statische Industriestruktur, die von ausgereiften Branchen wie der Automobilindustrie und der Pharmaindustrie dominiert wird, die nur wenig Raum für bahnbrechende Innovationen bieten. Im Gegensatz dazu haben die USA seit dem Jahr 2000 sechs Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung von über 1 Billion Euro hervorgebracht, während kein europäisches Unternehmen, das in den letzten 50 Jahren von Grund auf neu gegründet wurde, eine solche Größenordnung erreicht hat.
Neugründungen haben oft Schwierigkeiten, sich zu vergrößern, weil es in Europa am Zugang zum Finanzmarkt und Marktchancen mangelt. Viele europäische Unternehmer wandern in die USA ab, um dort Zugang zu Risikokapital und bessere Skalierungsbedingungen zu finden.
Europa sieht sich mit einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung konfrontiert, da die Bevölkerung immer älter wird. Dieser demografische Rückgang macht es für Europa noch wichtiger, die Produktivität durch Innovation zu steigern.
Europäische Großbaustelle: Energieinfrastruktur
Weil die KI-Revolution eine drastische Zunahme des Energieverbrauchs zur Folge haben wird, wollen wir in Kürze die Energieinfrastruktur Europas mit den USA vergleichen. Auch hier weist Europa Nachteile auf.
Die europäischen Unternehmen sind mit deutlich höheren Energiepreisen konfrontiert als ihre US-amerikanischen Pendants. So sind beispielsweise die Strompreise in Europa 2 bis 3 Mal und die Erdgaspreise 4 bis 5 Mal höher als in den USA. Dieses Energiepreisgefälle ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass Europa von Energieimporten abhängig ist und sein Energiemarkt ineffizient ist. Die hohen Energiekosten bedeuten für die europäische Industrie, insbesondere für die energieintensive, einen erheblichen Wettbewerbsnachteil gegenüber den US-Unternehmen.
Europa ist in hohem Maße von Energieimporten abhängig, vorwiegend von Erdgas. Vor dem Krieg in der Ukraine importierte Europa etwa 45 Prozent seines Erdgases aus Russland, das relativ billiges Pipeline-Gas lieferte. Der plötzliche Verlust dieser Energielieferungen hat zu Energieengpässen geführt und Europa gezwungen, auf teurere Importe von Flüssigerdgas (LNG) zurückzugreifen, was die Kosten weiter in die Höhe treibt. Im Gegensatz dazu sind die USA bei der Energieversorgung weitgehend autark, da sie dank ihrer Schieferrevolution über reichhaltige heimische Öl- und Gasvorkommen verfügen.
Europa ist zwar führend bei sauberen Energietechnologien wie Wind- und Solarenergie, steht aber immer noch vor großen Herausforderungen bei der Abkehr von fossilen Brennstoffen. Fossile Brennstoffe spielen nach wie vor eine zentrale Rolle bei der Energiepreisgestaltung in Europa, und diese Abhängigkeit wird voraussichtlich auch für den Rest des Jahrzehnts bestehen bleiben. Der langsame Übergang und die hohen Kosten der Dekarbonisierung vergrößern die Wettbewerbslücke zu den USA weiter.
Die USA haben nicht nur von ihren natürlichen Ressourcen profitiert, sondern auch erhebliche Fortschritte bei der Integration kostengünstiger sauberer Energiequellen in ihr Energienetz gemacht. In Europa hingegen ist die Regulierung des Energiemarktes ineffizient, was Verbraucher und Industrie daran hindert, in vollem Umfang von den Preissenkungen für erneuerbare Energien zu profitieren.
Die starke Abhängigkeit Europas von Importen, insbesondere aus politisch instabilen Regionen, macht es anfälliger für geopolitische Schocks, wie etwa die Unterbrechung der Gaslieferungen aufgrund des Krieges zwischen Russland und der Ukraine. Die USA sind aufgrund ihrer größeren Energieunabhängigkeit weniger von internationalen Energieversorgungsunterbrechungen bedroht.
Der Draghi-Plan: It’s the Infrastructure, stupid!
Um seine Energieinfrastruktur zu stärken und die künftige wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, muss Europa laut Draghi an mehreren Fronten kämpfen.
Europa muss den Einsatz erneuerbarer Energiequellen wie Wind- und Sonnenenergie, Wasserkraft und geothermische Energie ausbauen. Dies wird die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und Energieimporten verringern, speziell angesichts der Energiekrise, die durch Störungen wie den Krieg in der Ukraine verursacht wurde. Länder wie Deutschland, Spanien und Dänemark haben Fortschritte gemacht, aber in der gesamten EU sind weitere Investitionen erforderlich, um die Ziele in Bezug auf Klima und Energieunabhängigkeit zu erreichen.
Erneuerbare Energien müssen effektiver in das Energienetz integriert werden. Dazu gehört auch die Modernisierung der Netzinfrastruktur, um den intermittierenden Charakter erneuerbarer Energiequellen wie Wind und Sonne auszugleichen, und die Sicherstellung ausreichender Speicherkapazitäten, um überschüssige Energie in Spitzenzeiten der Produktion zu speichern.
Da erneuerbare Energiequellen wie Sonnen- und Windenergie unstetig sein können, sind groß angelegte Batteriespeichersysteme für die Aufrechterhaltung einer stabilen Energieversorgung unerlässlich. Europa muss in fortschrittliche Energiespeicherlösungen investieren, um überschüssige Energie zu speichern, die während der Spitzenzeiten der erneuerbaren Energien erzeugt wird, und sie zu verteilen, wenn die Nachfrage hoch ist.
Europa muss seine Stromnetze modernisieren, um sie intelligenter und effizienter zu machen. Intelligente Netze nutzen digitale Technologien, um den Energiefluss effektiver zu steuern, auf Veränderungen der Nachfrage zu reagieren und Energieverschwendung zu reduzieren. Sie ermöglichen auch eine bessere Integration von erneuerbaren Energiequellen und dezentraler Erzeugung (z. B. Sonnenkollektoren auf Häusern).
Der Einsatz von KI und maschinellem Lernen kann das Netzmanagement optimieren, den Energiebedarf vorhersagen und die Energieverteilung rationalisieren. Dies wird dazu beitragen, die Kosten zu senken, die Energieeffizienz zu verbessern und Unterbrechungen zu minimieren.
Ein stärker integrierter und vernetzter europäischer Energiemarkt würde den Wettbewerb erleichtern, die Energiepreise senken und den Zugang zu verschiedenen Energiequellen verbessern. Die Stärkung des EU-weiten Energiebinnenmarktes ist für die Energiesicherheit und die wirtschaftliche Stabilität von entscheidender Bedeutung.
Europa muss das Wachstum dezentraler Energiesysteme fördern, bei denen lokale erneuerbare Energiequellen (z. B. kommunale Solarprojekte, Windparks, Solarzellen auf Dächern) Strom näher am Ort des Verbrauchs erzeugen. Dies reduziert Übertragungsverluste und erhöht die Energiesicherheit, da die Abhängigkeit von zentralen Kraftwerken verringert wird.
Microgrids ermöglichen kleineren, lokalen Energienetzen, unabhängig oder in Verbindung mit dem Hauptnetz zu funktionieren. Sie bieten Widerstandsfähigkeit gegenüber Energieengpässen oder Netzunterbrechungen und sind ideal für ländliche Gebiete und Regionen, die für extreme Wetterereignisse anfällig sind.
Um Europas Elektrifizierungsziele, einschließlich des Übergangs zu Elektrofahrzeugen, zu erreichen, ist eine groß angelegte Einführung von Ladestationen für Elektrofahrzeuge erforderlich. Dazu müssen die Stromnetze aufgerüstet werden, um die steigende Stromnachfrage zu decken, und es muss sichergestellt werden, dass die Ladeinfrastruktur in allen Regionen zugänglich ist.
Europa muss seine Energiequellen diversifizieren, um die Abhängigkeit von Importen, insbesondere aus politisch instabilen Regionen, zu verringern. Dazu gehören der Ausbau der heimischen Kapazitäten für erneuerbare Energien und die Sicherung alternativer Erdgas- und Ölquellen aus befreundeten Ländern.
Um die Abhängigkeit von russischen Gaspipelines zu verringern, muss Europa seine Kapazitäten für den Import von verflüssigtem Erdgas (LNG) von anderen Lieferanten wie den USA, Katar und Australien ausbauen. Dazu gehören der Bau neuer LNG-Importterminals und die Modernisierung bestehender Terminals.
Energieinfrastruktur auch für den Klimaschutz ein Thema
Die Verbesserung der Energieeffizienz in Privathaushalten, Gewerbe und Industrie kann den Gesamtenergieverbrauch erheblich senken. Europa muss seine Anstrengungen fortsetzen, um Gebäude mit energieeffizienten Technologien nachzurüsten (z. B. bessere Isolierung und Heizsysteme) und die Energieeffizienz in der verarbeitenden Industrie und anderen Branchen zu fördern.
Die Regierungen sollten Anreize für Unternehmen und Haushalte schaffen, in energieeffiziente Geräte, Maschinen und Technologien zu investieren. Dies wird die Gesamtnachfrage verringern, die Energiekosten senken und zur Verringerung der Kohlenstoffemissionen beitragen.
Da der Klimawandel mehr extreme Wetterereignisse mit sich bringt, muss die europäische Energieinfrastruktur Störungen trotzen. Dazu gehören der Ausbau der Stromnetze, die Modernisierung von Energieanlagen und die Integration der Klimaresistenz in künftige Energieprojekte.
Wenn Europa seine Energieinfrastruktur verbessern und seine wirtschaftliche und ökologische Zukunft sichern will, muss es sich auf den Ausbau erneuerbarer Energien, die Integration intelligenter Netze, die Verbesserung der grenzüberschreitenden Konnektivität, die Diversifizierung der Energiequellen und die Förderung der Energieeffizienz konzentrieren. Indem es diese Bereiche in Angriff nimmt, kann Europa eine zuverlässige, erschwingliche und nachhaltige Energieversorgung für seine Industrie und seine Bürger sicherstellen und gleichzeitig seine globale Wettbewerbsfähigkeit stärken.
Der Draghi-Plan ist nach allgemeiner Auffassung nur ein erster Schritt und als solcher nicht unumstritten. Fast schon reflexartig hat der deutsche Finanzminister EU-Gemeinschaftsschulden abgelehnt. Gerade bei den notorisch sparsamen Nordeuropäern stoßen die Ausgabenpläne des Ex-EZB-Chefs auf Widerstand. Allerdings ist es wichtig, dass mit Mario Draghi ein wichtiger Akteur seinen Ruf in die Waagschale geworfen und den Weg zu Reformen und Infrastruktur-Investments aufgezeigt hat. Gerade Finanzmarkt-Akteure werden sich an den berühmten Draghi-Moment in London 2012 erinnern, als er mit einem knappen “Whatever it takes” sicherstellte, dass sich die arg wackelnde Währungsunion wieder berappelte.
Disclaimer
Dieser Beitrag stellt eine Meinungsäußerung und keine Anlageberatung dar.
Dieser Beitrag wurde zuerst auf der Internetseite thedlf.de unter https://thedlf.de/draghi-plan-infrastruktur-als-retter-des-wachstums-in-europa/ veröffentlicht.
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