Seit der Eurokrise sind die Euro-Südländer mit dem Stigma der Schmuddelkinder behaftet. Anleger haben sie damals abfällig als PIGS verschmäht. Im Oktober merkte der verwunderte Leser auf, dass die Rating-Agentur S&P Griechenland-Bonds nicht mehr als Ramsch betrachtet. Wo die Euro-Südländer heute stehen.
Wenn Anleger heute von der Eurokrise sprechen, dann meinen sie häufig die Krise der Euro-Südländer. Gelegentlich wird heute immer noch das herabsetzende Akronym PIGS (englisch: Schweine) verwendet, wenn die Rede von Portugal, Italien, Griechenland und Spanien die Rede ist. Deutschland hat sich während der Eurokrise zwischen 2010 und 2015 als Musterschüler dargestellt – von keinen so überzeugend repräsentiert wie vom gönnerhaft bis schulmeisterhaft auftretenden Finanzminister Wolfgang Schäuble. PIGS hätte als Akronym nie gegriffen, hätte es keine tiefsitzenden Vorurteile gegenüber den Euro-Sündländern gegeben. Diese Haltung entwickelte sich zum entscheidenden Anlager-Bias, der nach 2012 vor allem Anleihen-Investoren, die nur auf AAA-Euro-Papiere gesetzt hatten, viel Rendite kostete. Wir lassen die Eurokrise Revue passieren und schauen, wie sich die Euro-Südländer entwickelt haben und wie der Ausblick für sie ist – vor dem Hintergrund der Erfahrungen von Aktienanlegern.
Die Eurokrise: Anfang und Verlauf
Während die US-Wirtschaft recht schnell aus der großen Finanzkrise herauswuchs, ging es ab 2010 mit der Eurokrise erst richtig los. Griechenland war das Land, das zuerst die Auswirkungen der Krise zu spüren bekam, da es bereits vor 2009 eine hohe Staatsverschuldung aufwies – offenkundig waren die Wachstums- und Verschuldungsbilanzen über Jahre frisiert worden. Der griechische Staat war überschuldet und drohte zeitweilig, aus der Eurozone herauszufliegen. Die Bild-Zeitung fand hierfür gleich den passenden Begriff: Schummel-Griechen. Es entstand eine ungute Melange, die die Euro-Südstaaten – zeitweilig sogar einschließlich Frankfreichs – in einen Teufelskreis zogen:
Hohe Staatsverschuldung: Nachdem die Finanzkrise Löcher in die Haushalts-Budgets gerissen hatte, wurde die Krise in den besonders hoch verschuldeten Ländern offenkundig. Zwischen 2009 und 2012 schoss die Staatsverschuldung besonders in Portugal, Griechenland und Spanien in die Höhe (Italien befand sich aufgrund von Altschulden aus den 1980-ern und 90-ern ohnehin auf einem hohen Niveau); von unter 80 Prozent in Portugal auf 125 Prozent; von (frisierten) 125 Prozent in Griechenland auf 170 Prozent und von 60 Prozent auf 85 Prozent in Spanien.
Das hatte Rating-Abstufungen zur Folge, die die Verschuldung noch kostspieliger machte und internationale Finanzhilfe erforderte. Griechenland ragte mit einer besonders drückenden Verschuldung heraus und wurde – wie Portugal – auf „Junk“-Niveau bzw. auf Default herabgestuft. Die internationalen Finanzhilfen waren mit harten Sparauflagen verbunden, die zwar einen staatlichen „Weiterbetrieb“ sicherstellten, aber im Gegenzug das Wachstum abwürgten und die Arbeitslosigkeit in die Höhe trieben. Griechenland wurde besonders hart getroffen: Die Arbeitslosenrate schoss von unter zehn Prozent (2009) auf über 25 Prozent (2012) in die Höhe, das BIP-Wachstum brach vor allem 2011 und 2012 um 9 bzw. 7 Prozent ein, in einer Zeit, in denen sich die meisten anderen Industrieländer von den Folgen der Finanzkrise befreiten.
Die Folgen für Aktien-Investoren waren entsprechend verheerend – vor allem bei griechischen Aktien. Die untere Grafik zeigt den Kursverlauf der Leitindizes der vier Länder im Vergleich mit dem DAX zwischen 2010 und 2016. Während deutsche Aktien 2011 ebenfalls in den Sog der Krise gerieten, profitierte der DAX bis 2016 von der Erholung nach der Finanzkrise und vom Status Deutschlands als sicherer Hafen in der Eurozone. In dieser Zeit legte der DAX um gut 80 Prozent zu. Für Anleger in italienischen und spanischen Aktien war die Zeit nominal ein verlorenes Wochenende, für Anleger in Portugal war es eine schmerzhafte, für Griechenland-Investoren eine katastrophale Zeit.
Euro-Südländer erholen sich – trotz und wegen der Covid-Krise
Von vielen Anlegern unbemerkt begann ab 2013 eine zunächst zaghafte Erholung der Euro-Südländer, die in den vier Ländern unterschiedlich ausfiel. Allen Ländern gemein war, dass ab 2013 Sparmaßnahmen und Strukturreformen fortgesetzt wurden und die Haushaltsdisziplin gestärkt wurde. Griechenland hinkte aufgrund der Widerstände der Tsipras-Regierung hinterher. Die Regierung unter der linken Syriza-Partei lehnte zunächst die von der EU geforderte Austerität ab, lenkte jedoch ab Mitte 2015 ein (trotz eines allgemeinen Referendums, in dem die Auflagen der EU abgelehnt wurden). Die wirtschaftliche Stabilisierung verlief seit dem Höhepunkt der Eurokrise uneinheitlich: Während Portugal, Italien und Spanien deutliche Fortschritte machten, war das BIP-Wachstum in Griechenland auch nach 2015 anämisch. Das BIP bleibt auch heute weit unter dem Vorkrisenniveau, wie die untere Grafik zeigt (Basisjahr: 2010). Das deutsche BIP haben wir zu Vergleichszwecken hinzugefügt.
Die Erholung der Euro-Südländer wird noch deutlicher, wenn man die jährlichen BIP-Steigerungen betrachtet. Die untere Grafik zeigt, dass in den meisten Jahren seit 2013 das BIP-Wachstum höher als in Deutschlands war. Faktisch war die Eurokrise also nach 2014 dergestalt überwunden, als es eine signifikante Erholung gab, auch wenn das BIP-Niveau unter dem Vorkrisen-Niveau blieb.
Beispielhaft für den Reformwillen der Euro-Südländer standen vor allem die Regierungen Monti, Conte und Draghi in Italien, die trotz des Wahlsiegs der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung unbeliebte Reformen und Haushaltsdisziplin durchzogen. Nach der Irredenta-Phase der Syriza-Anfangszeit gaben sich auch die sozialistischen Regierungen in Griechenland für ihre Verhältnisse handzahm gegenüber der EU und anderen Kreditoren, und die wirtschaftliche Liberalisierung setzte sich erst Recht ab 2019 unter der Mitsotakis-Regierung fort. Das Wirtschaftsmagazin Economist adelte Griechenland 2021 sogar als Europas “Musterschüler”. Nicht weniger bedeutsam als die verbesserten Daten werden die Folgen der Reformen auf die grundlegende Funktionsfähigkeit des Staates eingeschätzt: Griechenland habe sich von einem klientelistischen, dysfunktionalen Staat gewandelt und sei fest im Euroraum verankert und Wachstumspolitik und Reformen verpflichtet, schrieb schon 2019 FT-Kommentator Martin Wolf.
Nicht nur für die Südeuropäer, aber vor allem für sie war die Covid-Krise ein scharfer Rücksetzer. Vor allem die vom Tourismus abhängigen Länder verzeichneten einen massiven Einbruch beim BIP, wie die obere Grafik zeigt. Zum Vergleich: In Deutschland fiel die Rezession deutlich flacher aus. Allerdings war die Erholung nach Covid stark und nicht vergleichbar mit der eher flachen Erholungskurve nach der Eurokrise. Denn die EU brachte ein – für europäische Verhältnisse – 2020 beachtliches Konjunkturprogramm auf den Weg – einschließlich des zeitlich befristeten Finanzinstruments NextGenerationEU 2020 mit einem Umfang von über 800 Milliarden Euro. Die Ausgaben dienen vor allem Investitionen in Infrastruktur, der Digitalisierung und der Dekarbonisierung der Wirtschaft.
Die größten Nutznießer auf absoluter Basis sind Italien und Spanien, relativ zum BIP wird Griechenland mit über zehn Prozent am deutlichsten vom EU-Covid-Programm profitieren. Ersten Indikationen zufolge gelingt es Griechenland besser als Spanien oder Italien, das EU-Geld effizient zu allokieren. Die Reform und Digitalisierung der Verwaltung machen es möglich. Eine erfolgreiche finanzielle Konsolidierung und Wachstumspotenzial billigen inzwischen auch die Rating-Agenturen Griechenland zu. Den Anfang machte DBRS Morningstar Anfang September mit der Anhebung des Kredit-Ratings von “BB” auf die Investmentgrade-Ratingstufe “BBB”. Die Heraufstufung spiegele die „beeindruckende“ Bilanz Griechenlands wider. DBRS geht davon aus, dass Griechenlands primärer Haushaltssaldo in diesem Jahr einen Überschuss von 1,1 Prozent und im Jahr 2024 einen Überschuss von 2,1 Prozent erreichen wird. Erst vor wenigen Tagen zog mit Standard & Poor’s eine weitere Rating-Agentur mit einer Erhöhung des Griechenland-Ratings auf BBB nach. Zugleich wurde Italien nicht herabgestuft, was eine nicht zu unterschätzende gute Nachricht ist.
Vor allem aus Griechenland gab es zuletzt immer mehr gute Nachrichten. Im Jahr 2022 wuchs die griechische Wirtschaft deutlich schneller als der Durchschnitt der Eurozone (real plus 5,9 Prozent gegenüber plus 3,3 Prozent); das BIP lag Ende 2022 bereits 6 Prozent über dem Niveau vor der Pandemie (nicht: der Eurokrise). Anfang 2023 veröffentlichte der Economist ein Ranking der “wirtschaftlichen Gewinner” unter den OECD-Staaten. Dabei wurden fünf Wirtschafts- und Finanzindikatoren – BIP, Inflation, Inflationsbreite, Aktienmarktentwicklung und Staatsverschuldung zusammengefasst. “Zum ersten Mal seit langem findet die Wirtschaftsparty im Mittelmeerraum statt”, notierte der Economist unverhohlen verwundert. Ganz oben auf der Liste landete Griechenland.
Diese per Saldo gute Entwicklung wurde bereits frühzeitig von Aktienanlegern notiert. Bereits seit 2016 haben die meisten Aktienmärkte Südeuropas den DAX weiter hinter sich gelassen. Während der deutsche Leitindex um 38 Prozent zulegte, schoss der griechische Athex Composite um 126 Prozent nach oben, der FTSE MIB kletterte um 71 Prozent und der PSI 20 stieg um immerhin 54 Prozent. Lediglich der spanische Markt blieb hinter dem DAX zurück. Auch Anleger in Euro-Südanleihen konnten in der Niedrigzinsphase punkten, derweil Fonds und ETFs, die nur in AAA-Euro-Ländern investierten, den entscheidenden Yield-Pickup verpassten – Anleger in alpenländischen Hundertjährigen blicken sogar auf Verluste von 30 Prozent und mehr in den vergangenen 18 Monaten zurück.
Die Eurokrise ist passé – und jetzt?
Angesichts der erfreulichen Nachrichtenlage und der soliden Aktienperformance werden sich Anleger fragen, ob die Euro-Südstaaten mit einem neuen Wachstumsschub endgültig die Folgen der Eurokrise abschütteln werden und insbesondere deren Aktien outperformen werden. Zur Erinnerung: Die Aktien der Euro-Nordländer dominieren in den meisten aktiven und passiven Euro-Aktienportfolios. Dafür sprechen die günstigen Bewertungen. Während der DAX ein 12-Monats-KGV von 13 aufweist und auch das KGB des Marktbreiten Euro-Index MSCI EMU bei etwas unter 13 liegt, sind der griechische und italienische Markt jeweils für etwas unter den achtfachen Gewinn zu haben. Das KGV im MSCI Spanien liegt bei etwas über 10. Nur Portugal ist mit einem KGV von 14 höher bewertet als der deutsche Aktienindex.
Die Euro-Südländer sind seit der Eurokrise in den meisten Aktienportfolios nicht besonders stark repräsentiert. Aktien aus Spanien und Italien sind in den Euro-Indizes mit einem Anteil von jeweils 7 bis 10 Prozent vertreten, Aktien aus Portugal mit unter einem Prozent; Griechenland-Aktien sind eine nicht messbare Größe. (Auch im MSCI Emerging Markets, wohin Griechenland-Aktien verbannt wurden, sind sie nur mit 0,5 Prozent gewichtet.)
Bei sehr breit gestreuten Portfolios wäre eine größere Allokation von Euro-Südländer-Aktien aus Diversifikationsgründen vertretbar. Zumal die Perspektiven angesichts der hohen Budgethilfen nicht schlecht sind. In Griechenland etwa könnten ausgerechnet Banken angesichts des Zinsniveaus profitieren. Financials machen etwa 30 Prozent des MSCI Greece aus, und dass der Hellenic Financial Stability Fund, ein Erbe der Finanzkrise, seine Anteile verkauft, spricht dafür, dass die Geldhäuser wieder auf eigenen Füßen stehen können.
Allerdings geht die sich abzeichnende Konjunkturabschwächung nicht an den Euro-Südländern vorbei. Zwar sind die Kredit-Ratings inzwischen in den vier Ländern nach S&P entweder bei BBB (Italien, Griechenland, Portugal) beziehungsweise sogar bei A (Spanien). Aber die steigenden Zinsen in den Euro-Südländern könnten Stress verursachen – zumal die Schulden der Euro-Südländer nicht sinken, derweil das BIP stagniert. Damit steigt das Gewicht der Schulden relativ zum BIP.
Bereits jetzt gilt die Lage in Italien als wackelig, und Fitch Ratings hat bemängelte jüngst, dass die Haushaltsdisziplin für 2024 merklich gelockert worden sei. Bei einem BBB ist der Weg zum Downgrade auf Junk-Status nicht weit. Das macht Investoren nervös. Aktuell liegt der Spread italienischer Anleihen über Bunds wieder bei gut 200 Basispunkten. So sehr die Euro-Südländer von der Post-Pandemie-Erholung profitiert haben: die steigenden Zinsen und die sich abschwächende Konjunktur lassen zunächst nichts gutes für die Risiko-Assets erwarten – weder für nord-, noch für südeuropäische.
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