Niedrig schwankende Aktien gelten in Krisenzeiten als eine zuverlässige Outperformance-Quelle. Dieser Artikel geht auch auf die möglichen Ursachen für das Low Volatility Phänomen ein und schildert die Vorteile und Nachteile in der Praxis: Nutzen Anleger diese Art von quantitativ aufgesetzten Fonds und ETFs zu ihrem Vorteil?
Eine kurze Geschichte der Revolution gegen das CAPM (Capital Asset Pricing Model)
Die aktuelle Marktphase ist von hohen Verlusten an den Risikomärkten geprägt, und die Aussichten für den Rest des Jahres sind ebenfalls nicht rosig. Langfristanleger können Verluste aussitzen und profitieren davon, die starken Erholungsphasen mitzunehmen, die am Ende jeder Korrektur anstehen (und keiner weiß, wann Korrekturen anfangen und wann sie enden). Diesen Rat beherzigen etliche Investoren nicht: sie sitzen lieber ganz oder teilweise an der Seitenlinie, was vielleicht die gestresste Anlegerseele beruhigt, aber den Renditen schadet. Es gibt keinen einfachen Ausweg aus dem Dilemma der Risikoaversion!
Manche Anleger wählen einen dritten Weg: Sie setzen auf Aktien, die eine niedrige Schwankungsintensität haben. Portfolios aus so genannten Low Volatility Aktien, also Papiere, die in der Vergangenheit wenig geschwankt haben, zeigen immer wieder eine überraschende Eigenschaft: sie liefern eine bessere risikoadjustierte Performance als der Markt. Was für Low Volatility gilt, zählt auch für andere Kennzahlen: Low Beta und Minimum Variance Portfolios: Die Spielarten der quantitativen Investmentstrategien sind zahlreich!
Die Gründe für die günstigen Eigenschaften von Low Volatility sind nicht eindeutig geklärt, was Finanzwissenschaftler vor ein Problem stellt. die klassische Finanztheorie besagt, dass Renditen eine Funktion des eingegangenen Risikos sind, nach dem Motto: Je höher das Risiko, desto höher die erwartete Rendite. Was für Anlageklassen im Allgemeinen gilt (Aktien bringen mehr als Anleihen, bringen mehr als Cash), ist auf der Ebene vergleichbarer Vermögenswerte nicht der Fall. Hier bringen weniger stark schwankende Wertpapiere bessere risikoadjustierte Renditen als die volatilen.
Der Low Volatility Effekt wurde erstmals 1972 von Fischer Black, Michael Jensen und Myron Scholes beschrieben. Sie fanden heraus, dass Aktien mit niedrigeren Betas höhere Renditen erwirtschaften als Aktien mit einer hohen Sensitivität gegenüber dem Markt. „Die Realität zeigt, dass sich die erwartete Überrendite eines Wertpapiers nicht proportional zu seiner Marktsensitivität“ verhält, formulierten die Wissenschaftler in ihrer Kritik am klassischen Capital Asset Pricing Modell (CAPM). Demnach müsste es also nicht „No risk, no fun“, sondern „more fun with low risk“ heißen.
Die Gründe für das Low Volatility Phänomen
Die meisten Untersuchungen kommen zum Schluss, dass dem Low Volatility Phänomen menschliche Verhaltensweisen zugrunde liegen. Eine gute Erklärung liefert der sogenannte Lotterie-Effekt. Viele Investoren haben den Anspruch, eine bessere Performance als der Markt zu erzielen. Sie setzen daher bevorzugt auf stark schwankende Aktien, weil diese eine höhere Rendite versprechen. Dabei ignorieren viele, dass diese hoch bewertet sind, was die Chancen auf spektakuläre Renditen verringert.
Anleger zeigen übrigens eine Präferenz für besonders stark schwankende Aktien. Man zieht also nicht nur im wahren Leben die besonders miesen Erfolgsaussichten der staatlichen Lotterie den relativ guten Chancen des Hütchenspielens vor! Eine starke Neigung zu High Volatility Wertpapieren haben übrigens auch die Sell-side Analysten der Banken, die bei vielen Anlegern ohnehin im Verdacht stehen, Beta-Jockeys zu sein.
Nimmt man die Lotterie-These für bare Münze, dann lassen sich einige unterstützende Argumente finden: Investoren, die entweder wegen fehlender Möglichkeiten (Privatanleger) oder regulatorischer Bestimmungen (institutionelle Investoren) kein Fremdkapital einsetzen dürfen, setzen als Ausgleich auf riskantere Aktien – eben weil sie Low Volatility Aktien nicht „hebeln“ können bzw. dürfen. Manche Anleger (v.a. Fondsmanager) haben die Vorgabe, nicht zu weit von ihrer Benchmark abweichen zu dürfen. Sie entscheiden sich deshalb innerhalb der Branchen- und Länder Begrenzungen, denen sie unterliegen, für die schwankungs intensiveren Aktien.
Doch es gibt weitere Erklärungen für das Low Volatility Phänomen. Robert Novy-Marx von der Universität Rochester kam zum Schluss, dass deren Outperformance eher darauf beruhe, dass es sich um niedrig bewertete Aktien mit hoher Rentabilität handele. Hinter Low Volatility Aktien stehe also eine Spielart von Value. Low Volatility als Missverständnis, sozusagen. Tatsächlich schieben sich bei Low Volatility Aktien in der Performance-Praxis immer wieder andere Faktoren in den Vordergrund. Die Marktentwicklung im vierten Quartal 2016, als gleichermaßen Low Volatility und Quality Aktien im Zuge stark steigender Renditen am Anleihenmarkt heftige Verluste hinnehmen mussten, spricht für ein gewisses Durcheinander bei den so genannten Investment-Faktoren. Fondsmanager kritisieren dabei bei ETFs eine allzu mechanischen Sicht der Dinge.
Performance-Muster im 21. Jahrhundert
Eine Untersuchung in Sachen Low Volatility wäre nicht komplett, würden wir nicht die Probe mit aktuellen Daten aufs Exempel machen. Wie sieht die Bilanz von Low Volatility Aktien in den vergangenen Jahren aus? Dafür wird die Bilanz von drei niedrig schwankenden Indizes im Vergleich zu ihren „Mutterindizes“: MSCI World Minimum Volatility vs. MSCI World, MSCI Europe Minimum Volatility vs. MSCI Europe und S&P 500 Minimum Volatility vs. S&P 500.
Die untere Grafik illustriert die relative Quartalsbilanz der drei Indizes gegenüber ihren Mutterindizes in den vergangenen 20 Jahren. Ein Wert mehr als null zeigt eine Outperformance; unter der Nulllinie ist die Bilanz gegenüber dem Marktindex negativ.
Markante Performance-Muster bei Low Volatility Aktien
Under- und Outperformance Daten auf Quartalsbasis zwischen 2002 und 2022 und in Prozentpunkten, Daten per 31.3.2022, Quelle: Morningstar, Grafik: Pyfore Capital
Die drei Kurven zeigen einen scheinbar ziemlich wilden Verlauf. Sie pendeln wild um die Nulllinie und zeigen somit eine weitere Facette des Auf und Ab an den Börsen. Aufmerksame Beobachter werden zur Kenntnis nehmen, dass es sowohl markante Outperformance-Phasen (2002-3; 2007-2009, 2011, 2020) als auch markante Underperformance-Phasen gibt (ab Q2 2003; Q2 2009; Q1 2012 und vor allem Q2 2020). Das zeigt, dass Low Volatility Aktien ihre Funktion erfüllen: Sie liegen in Krisenzeiten vorn. Was viele Anleger allerdings ungern hören werden: sie geben die Outperformance in ruhigeren Zeiten zumindest teilweise wieder ab.
Um dieses Ergebnis greifbarer zu machen, wurde die relative Performance des MSCI World Minimum Volatility gegenüber dem MSCI World in der unteren Balkengrafik abgebildet. Sie zeigt eindrucksvoll, dass die Mehrzahl der Performance-Daten seit 2002 unter der Nulllinie lagen. In diesem Jahrtausend waren die Märkte überwiegend im Anstiegsmodus, auch wenn sich bei uns die beiden Jahrhundert-Crashs stark ins Gedächtnis eingebrannt haben. Besonders auffällig ist, dass in der jüngsten Vergangenheit – seit dem kurzen Covid19 Crash – die relative Performance gegenüber dem MSCI World besonders schwach war.
In Aufwärtsmärkten dominiert die Underperformance bei Low Volatility Aktien
Under- und Outperformance Daten auf Quartalsbasis zwischen 2002 und 2022 und in Prozentpunkten, Daten per 31.3.2022, Quelle: Morningstar, Grafik: Pyfore Capital
Kommen wir nun zum Kontrast zwischen dem Rohertrag und der risikoadjustierten Rendite. Die untere Tabelle zeigt die relative Bilanz der drei Minimum Volatility Indizes seit 2002 in zwei Spalten. Links ist die annualisierte relative Rendite der drei Indizes seit 2002 abgebildet. Der MSCI Europe Minimum Volatility konnte pro Jahr eine Outperformance von 1,78 Prozentpunkten jährlich erzielen. Indes lagen der MSCI World Minimum Volatility und der S&P Low Volatility um 0,12 Prozentpunkte bzw. 0,44 Prozentpunkte pro Jahr hinter dem MSCI World und dem S&P 500. Das ist nicht trivial.
Anders sieht es bei der risikoadjustierten Rendite in der rechten Spalte aus. Hier wurde die Sharpe Ratio als Maß verwendet. Sie setzt die Performance eines Marktes oder eines Assets (bereinigt um den sicheren Zins) ins Verhältnis zur Volatilität. Sie wird als Ratio nicht in Prozent ausgedrückt, sondern als Ertrag pro Risiko-Einheit. Die Differenz zwischen der Sharpe Ratio der drei Low Volatility Indizes und der Sharpe Ratio des jeweiligen Mutterindex ist positiv, was zeigt, dass risikoadjustiert alle drei Low-Volatility Portfolios gegenüber den Marktindizes Vorteile haben.
Eine Analyse der Investmentpraxis
Für Investoren, die jetzt vor der Frage stehen, ob bzw. wie sie sich an den Markt für Risiko-Assets heranwagen sollen, lassen sich einige Schlussfolgerungen ziehen. Die Erkenntnis, dass die risikoadjustierte Rendite von Minimum Volatility Portfolios überlegen ist, haben auch unsere Zahlen bestätigt. Es stellt sich allerdings die Frage, welche Bedeutung dieser Befund für die Investment-Praxis der meisten Anleger hat, bei denen der absolute Ertrag im Vordergrund steht. Es spricht einiges dafür, dass kombinierte Kennzahlen wie etwa die Sharpe Ratio ein Buch mit sieben Siegeln für die meisten Privatanleger ist. Für sie dürfte der Vorteil von Low Volatility Aktien nicht greifbar, ja vielleicht sogar irrelevant sein. Sie wollen Performance sehen.
Ob Low Volatility Aktien einen besseren Total Return erzielen können als klassische Marktportfolios steht in den Sternen, wie unsere Zahlen gezeigt haben. Anders formuliert: Die Antwort auf diese Frage ist pfadabhängig. Je nach Markt bzw. Marktphase kann sich Minimum Volatility absolut gesehen lohnen – oder auch nicht.
Das zeigt sich seit 2002: Wer bis heute im Krisenkontinent Europa investiert war, hätte mit einem Low Volatility Portfolio ein Marktportfolio auch absolut outperformt. Anders bei USA- und Weltportfolios: Hier wäre der Total Return bei Minimum Volatility Investments schlechter gewesen.
Ungeachtet der akademischen Debatte um CAPM und Faktor-Investing ist der Clou bei Minimum Volatility Investments einfach zu erfassen: Verliert ein Portfolio zehn Prozent, muss man nur 11,1 Prozent verdienen, um auf den ursprünglichen Stand zurückzukommen; verliert das Portfolio indes 50 Prozent, muss man 100 Prozent wieder gut machen. Low Volatility ist also dann sinnvoll, wenn man Unbill an den Märkten erwartet, aber nicht an der Seitenlinie stehen will.
Allerdings stellt sich hier das Timing-Problem. Weil man im Vorhinein nicht wissen kann, welcher Markt wann besonders risikoträchtig ist, sollten die meisten Aktienanleger im Zweifel lieber breit diversifizieren als konzentrierte Minimum oder Low Volatility Aktien kaufen. Es spricht vieles dafür, dass nur solche Anleger von Low Volatility profitieren, für die die risikoadjustierte Rendite das A und O ist. Nur sie werden den Trade-off zwischen Outperformance in der Krise und Underperformance in freundlichen Marktphasen akzeptieren.
Die Investmentpraxis ist jedoch in der Breite wenig ermutigend. Viele Anleger nutzen Minimum Volatility Fonds und ETFs als Timing Instrumente. Das hat in der Vergangenheit nicht gut funktioniert. So folgten auf starke Performance-Quartale von Low Volatility Aktien im Jahr 2015 (Stichwort: China-Krise ab dem Sommer) hohe Zuflüsse in Minimum Volatility ETFs bis Mitte 2016. Danach brachen allerdings die Kurse von Low Volatility im Zuge des Renditeanstiegs bei Anleihen ein – zum Nachteil der Investoren, die gerade eingestiegen waren. Es folgten massive Verkäufe solcher Fonds.
Das identische Muster wiederholte sich 2019, als klassische Marktportfolios Minimum Volatility Aktien deutlich outperformten. Anleger zeigten daraufhin Minimum Volatility Fonds und ETFs die rote Karte – leider gerade rechtzeitig vor der Covid19-Krise, in der Minimum Volatility outperformte. Auch das hat der Anlegerrendite geschadet.
Stichwort Rendite: Am Ende des Tages sind alle Aktien nun einmal Aktien. Minimum Volatility kann in der Krise die Verluste begrenzen, aber nicht vermeiden. Das zeigt sich auch in diesem Jahr: Zwar konnte der MSCI World Minimum Volatility die Verluste im Vergleich zum MSCI World reduzieren, der über 20 Prozent verlor. Allerdings büßte auch der Risikominimierer 2022 gut 13,5 Prozent ein. Das dürften nur die Anleger honorieren, die sich im Klaren darüber sind, dass Low Volatility eben nicht No Volatility bedeutet.