Wer an den Kapitalmärkten investiert, setzt sich gezielt Risiken aus, und über allem wabert der Geist der Unsicherheit. Risiko vs. Unsicherheit: Beide haben das Zeug, Portfolios zu havarieren. Der Unterschied zwischen ihnen ist vielen unklar, ist aber keine Haarspalterei. Worauf Anlegerinnen und Anleger achten sollten.
In diesem Sommer sind die Aktienkurse immer wieder eingebrochen. Anfang August war das der Fall, und auch in dieser Woche sind die Aktienmärkte ordentlich durchgeschüttelt worden. „Die Unsicherheit an den Märkten steigt“, war in vielen Schlagzeilen zu lesen. Atemlose Börsenberichterstattung gehört zum Geschäft, hilft Anlegern aber nicht weiter. Risiko vs. Unsicherheit: Wer den Unterschied kennt, weiß, wogegen das Portfolio geschützt werden kann und muss. Und wird im Zweifel mehr Gelassenheit an den Tag legen und sich nicht von Clickbait-Texten kirre machen lassen.
Risiko vs. Unsicherheit: Eine erste Abgrenzung
Wie klingt folgende, frei erfundene Berichterstattung zu einem schwachen Börsentag: „Das Risiko, dem sich Aktienanleger gezielt ausgesetzt haben, hat heute vollkommen erwartbare Kursverluste in Höhe von 1,5 Prozent nach sich gezogen“. Klingt ballaballa? Unvertraut, ja, aber so ein Bericht würde die Natur der Aktienanlage treffend widerspiegeln.
Und wie klingt diese ebenso frei erfundene Meldung zum Corona-Crash Mitte März 2020? „Weil unerwartete Börsencrashs statistisch gesehen alle 20 Jahre stattfinden, brachen die Aktienkurse in den ersten zwei Märzwochen planmäßig um 30 Prozent ein.“ Das ist natürlich vollkommen ballaballa.
Die erste Meldung beschreibt das ganz normale Alltagsrisiko an den Aktienmärkten. Kurse steigen, und Kurse fallen in ihren üblichen Bändern. Wenn der DAX zwei Prozent an einem Tag verliert, kann man schon mal die Augenbraue heben. Oder auch nicht. Die zweite Meldung betrifft dagegen die Unsicherheit, die ebenfalls stets an den Märkten mitschwingt. Die Corona-Krise kam aus dem Nichts. Keiner konnte sie vorhersagen, keiner konnte sie modellieren, und als sie passierte, brach an allen Risikomärkten Chaos aus: Ölpreis-Futures fielen auf null Dollar, Gaspreis-Futures sogar darunter, der Markt für US-Staatsanleihen – die liquidesten Assets der Welt – drohte einzufrieren, und die Aktienmärkte fielen schneller als in der großen Krise 1929.
Risiko vs. Unsicherheit: An den Aktienmärkten wie im realen Leben gilt es, den Unterschied zu verstehen – und Investment-Strategien entsprechend aufzusetzen.
Risiko vs. Unsicherheit – enter Donald Rumsfeld
Weil die beiden Konzepte Risiko und Unsicherheit für viele Anleger unbekannt sind, kommen wir zu einer der besten Definitionen, die auch noch ein Leckerbissen für Sprachkünstler ist:
“Reports that say that something hasn’t happened are always interesting to me, because as we know, there are known knowns; there are things we know we know. We also know there are known unknowns; that is to say we know there are some things we do not know. But there are also unknown unknowns—the ones we don’t know we don’t know. And if one looks throughout the history of our country and other free countries, it is the latter category that tends to be the difficult ones.”
Urheber dieses Zitats ist der ehemalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld. Rumsfeld begründete den geplanten Angriff der USA gegen den Irak im Jahr 2002 mit dem Hinweis, dass die Frage, ob es irakische Massenvernichtungswaffen gäbe, ein „unknown unknown“ sei und diese damit zu einer besonders tückischen Gefahren-Kategorie zählten. Kein Problem sind also die „known knowns“ (gestern verlor der DAX 2 Prozent). Auch die „known unknowns“ sind unproblematisch, weil man sich auf bestimmte, erwartbare Risiken einstellen kann (der DAX verliert morgen 2 Prozent).
Nachdem 2003 die US-Invasion im Irak stattfand, stellte sich bald heraus, dass der Irak keine Massenvernichtungswaffen mehr besaß. Die USA hatten also im Ergebnis ohne zwingende Gründe eine instabile Region zusätzlich destabilisiert und den Tod hundertausender Zivilisten herbeigeführt. Aber die katastrophalen Folgen des Irakkriegs ändern nichts daran, dass Rumsfeld recht behalten sollte: Die irakischen Massenvernichtungswaffen waren tatsächlich ein unknown unknown. Was die USA nicht wissen konnten, war, dass Saddam Hussein mit den UN-Waffeninspektoren aus kaum nachvollziehbaren Gründen ein Katz-und-Maus-Spiel betrieb. Er hatte längst die Vernichtung seiner B- und C-Waffen unter strengster Geheimhaltung befohlen, ließ die Welt jedoch bis kurz vor der US-Invasion im März 2003 im Unklaren darüber und riskierte einen aussichtslosen Krieg mit den USA. In seiner Paranoia wollte der irakische Diktator die Illusion einer strategischen Abschreckung gegen Iran und Israel aufrechterhalten. Willkommen in der Welt der unknown unknowns!
Das Risiko an den Kapitalmärkten: The known unknowns
Versteht man das Risiko an den Kapitalmärkten als die quantifizierbare Wahrscheinlichkeit möglicher Anlageergebnisse, dann folgt daraus, dass sich Anleger gegen Risiken schützen können. Wenn wir wissen, dass der maximale Verlust in Krisen in der Vergangenheit bei, sagen wir, 50 Prozent lag, dann können wir für den Fall, dass wir derartige Risiken ausschließen wollen, entsprechende Risikomanagement-Strategien aufsetzen, etwa indem wir Portfolio-Versicherungen kaufen. Wir sind dann bereit, die Prämie für die Versicherung zu zahlen, weil wir das Risiko eines möglichen Verlusts von 50 Prozent für nicht tolerierbar halten. (Andere Anleger werden kein Problem mit einem Minus von 50 Prozent haben, wiederum andere können maximal einen Einbruch von 20 Prozent aushalten).
Eine weitere Möglichkeit, sich gegen Risiken zu schützen, ist die Diversifikation über verschiedene Vermögenswerte. Auch wenn wir wissen, dass die langfristigen Erträge der Aktienmärkte am höchsten sind, investieren wir auch in Anleihen, Gold, Rohstoffe und Cash, weil wir wissen, dass die Kombination aus verschiedenen Assets unsere Portfolios resilienter macht. Das Jahr 2008 war hier ein Paradebeispiel für die diversifizierende Wirkung von Staatsanleihen. 2022 war wiederum eine Diversifizierung in Inflationsschutzanleihen und Rohstoffen das beste Mittel gegen den starken Inflationsanstieg.
Die Unsicherheit an den Märkten: The unknown unknowns
Wenn wir wissen, dass die Drawdowns an den Märkten in der Vergangenheit bei 50 maximal Prozent lagen, bedeutet das nicht, dass Aktien nicht auch um 90 Prozent fallen können. Und in manchen Krisenfällen nutzt auch die breiteste Diversifikation nichts. Als etwa im März 2020 die Aktienpreise ins Uferlose fielen, Treasuries schwer handelbar waren, Öl- und Gas-Futures unter null notierten, brach auch der Goldpreis ein – weil Anleger nur noch Gold vorfanden, um Verluste in anderen Assets auszugleichen. Weil also Gold nicht von der Krise betroffen war, wurde es verkauft und war im Ergebnis als Schutz vor unvorhergesehenen Ereignissen unbrauchbar.
Unsicherheit wird zu Recht mit Angst in Verbindung gebracht, weil es um Phänomene geht, die wir uns nicht vorstellen und gegen die wir uns entsprechend nicht wappnen können. Weil das aber nach Fatalismus klingt und Anleger nichts mehr hassen als Unsicherheit, werden immer wieder Rezepte vorgeschlagen. Sie helfen gegen die known unknowns, nicht aber gegen die unknown unknowns. (Wenn ein unknown unknown einmal eingetreten ist, wird es zu einem known known, und dann setzt das Risikomanagement ein.)
Die Unsicherheit an den Märkten hat eine weitere Dimension: Es geht nicht nur um unvorhergesehene Einzelereignisse, sondern um die Folgen der Komplexität des Finanzmarkts. Die Folgen auch von bekannten Ereignissen können in komplexen, dynamischen Systemen unvorhersehbar sein. In der Chaostheorie spricht man vom Schmetterlingseffekt. Demnach könnte der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien potenziell einen Tornado in Texas auslösen. Fragile, nicht-lineare Systeme reagieren empfindlich auf kleinste Veränderungen – so in der Ökologie wie auch an den Märkten. (Wer wollte bestreiten, dass es sich bei den Kapitalmärkten um vernetzte, dynamische, fragile und nicht-lineare Systeme handelt?)
Auch wenn die Anfangsbedingung einer Korrektur beschrieben werden können (Zinserhöhung in Japan, Gewinnwarnung von Nvidia, schwache US-Arbeitsmarktdaten usw.), bleiben die Auswirkungen letztlich aufgrund der Komplexität des Systems und der unterschiedlichen Wechselwirkungen zwischen den Akteuren unbekannt. Die Unsicherheit an den Märkten bleibt also letztlich wegen der vielen Unwägbarkeiten eine unbestimmbare Größe. Das hat Folgen für die Risikomodellierung.
Risiko vs. Unsicherheit ist keine neue Debatte, sie verschärft sich in der Regel dann, wenn eine Systemkrise eintritt. Das Enfant Terrible der Finanzbranche, Nassim Taleb, gilt als einer der schärfsten Kritiker der Versuche, das Unbekannte zu modellieren. Das sei zum Scheitern verurteilt, nicht nur wegen der hohen Kosten von Absicherungen, sondern auch wegen der Nicht-Linearität der Renditen am Finanzmarkt. Taleb plädiert für mehr Robustheit. Ein robustes System sei wegen Redundanzen besser gegen externe Schocks gewappnet. Ein robustes System ermöglicht einen effektiveren Schutz gegen Krisen, als die Versuche, Portfolios durch theoretische, prognosebasierte Modelle krisenfest zu machen. Taleb macht die Analogie zum menschlichen Körper auf: Eine Niere zu haben, wäre aus Effizienzgründen vielleicht in den meisten Fällen ausreichend, aber der Backup durch die zweite macht uns resilienter.
Herdentrieb macht aus banalen Risiken Schwarze Schwäne
Der nicht-triviale Unterschied zwischen Risiko und Unsicherheit wird leider durch einen Faktor verkompliziert: den Anleger. Fliegen uns unsere Portfolios um die Ohren, weil wir Risiken ignoriert haben, versuchen wir die Spur unseres Versagens mit „Black-Swan“-Ausreden zu verwischen. DAS konnte man doch nicht kommen sehen! Ich kann mich gut erinnern, wie ziemlich smarte Banker die Finanzkrise 2008 als „Sechs-Sigma-Ereignis“ bezeichneten. Gierige Banker verpacken in Zeiten verschlechternder Bonitäten Ableitungen aus Schrott-Hypotheken in intransparente Finanzstrukturen. Macht es dann „peng“, war es ein Ereignis, das nur einmal in einer Million Fälle eintritt. Puh!
Wenig Sympathie empfinde ich auch mit Investoren, die im Angesicht von Minusrenditen in 100-jährige Österreich-Bonds zu Höchstkursen investiert haben. Sie standen Ende 2022 vor den Trümmern ihrer Anleihenportfolios. Dass sich ein Zinsanstieg auf Langläufer so negativ auswirken würde – ein Quasi-Sechs-Sigma-Event!
Ist die Materie bereits komplex, dann verkomplizieren also Investoren die Sache oft zusätzlich. Insofern dürften Einfachheit, Robustheit und klares Denken die besten Erfolgsrezepte gegen die Ungewissheit sein. Wie auch das Misstrauen vor „Lösungsanbietern“, die versprechen, auch das letzte Quäntchen Unsicherheit im Portfolio absichern zu können.
Disclaimer
Dieser Beitrag stellt eine Meinungsäußerung und keine Anlageberatung dar.
Dieser Beitrag wurde zuerst auf der Internetseite thedlf.de unter https://thedlf.de/fuenf-essentials-fuer-den-weg-zum-clever-investieren/ veröffentlicht.
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